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Meredith wartete bereits vor dem Schultor, als die Glocke das Ende des Unterrichts verkündete. Sie lehnte mit dem Rücken an der halbhohen Mauer, die die Schule umschloss und spielte mit einer Haarsträhne, die ihrem Zopf entwichen war.

Isabella bemerkte, wie jung ihre Schwester heute wirkte. Sie schien abgenommen zu haben, auch wenn es unter der weiten Hose kaum zu erkennen war. Ihr Gesicht wirkte beinahe kindlich und sie wäre unter den Schülern nicht weiter aufgefallen, hätte sich ihre Kleidung nicht von der typischen Schuluniform unterschieden.

Die Studenten durften ihre Kleidung selbst wählen. Man traute ihnen zu, sich angemessen kleiden zu können und ordentlich in der Universität zu erscheinen. Dennoch warf auch bei ihnen ein Professor einen Blick auf ihr Erscheinungsbild, bevor sie den Vorlesungssaal betraten.

Isabella konnte den Tag, an dem sie die Schuluniform endgültig in den Schrank hängen konnte, kaum erwarten. Nach mittlerweile fast zwölf Jahren hatte sie den immer gleichen hellblauen Faltenrock satt und sie konnte nachvollziehen, dass ihre Schwester seit einigen Monaten nur noch Hosen trug.

Meredith hob den Kopf, als Isabella sie erreicht hatte, und stieß sich von der Mauer ab, ohne den Finger aus der Haarsträhne zu nehmen. Isabella klopfte ihr den Staub vom Rücken, den die Mauer auf dem Stoff ihrer Bluse hinterlassen hatte. Ihre Schwester fuhr zurück und funkelte sie böse an.

„Mutter sollte dich so nicht sehen.", erklärte Isabella. „Du weißt, wie viel Wert sie auf saubere Kleidung legt."

„Mutter ist aber nicht zuhause, also kann sie mich so nicht sehen.", entgegnete Meredith scharf.
Sie musste ihren abweisenden Tonfall bemerkt haben, denn ein schuldbewusster Ausdruck trat in ihr Gesicht.

„Tut mir leid.", sagte sie leise.

Isabellas Klassenkameradinnen spazierten an ihnen vorbei, fröhlich lachend und in Unterhaltungen vertieft. Sonst gehörte sie dazu, aber gerade war ihr nicht nach guter Laune zumute. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass mit Meredith etwas nicht stimmte. Die Frage, was los war, lag ihr bereits auf der Zunge, als ihre Schwester sich abrupt umdrehte und den anderen Schülern in Richtung der Haltestelle folgte. Als sie bemerkte, dass Isabella sich nicht vom Fleck bewegt hatte, blickte sie über die Schulter.

„Was ist? Willst du hier Wurzeln schlagen?"

Sie lachte und diesmal erreichte das Lächeln sogar ihre Augen.

Merediths hohe Schuhe hinterließen ein lautes Klacken bei jedem ihrer Schritte. Das war noch ein Grund, aus dem Isabella das Ende ihrer Schulzeit kaum erwarten konnte. Schon als Kind hatte sie ihrer Mutter bewundernd dabei zugesehen, wie sie auf hohen Hacken balancierte, als wäre es das Leichteste auf der Welt. Mit acht Jahren hatte sie sich sogar in das Ankleidezimmer ihrer Eltern gestohlen und war in die feinen Schuhe geschlüpft, doch ihre Mutter hatte sie erwischt.

Isabella erinnerte sich noch genau an den Ärger, den es damals gegeben hatte. Eine Woche Zimmerarrest hatte sie sich eingebrockt, weil sie unerlaubt das Ankleidezimmer betreten hatte. Aber die Faszination hatte sie nicht mehr losgelassen. Sehnsüchtig wartete sie auf den Tag, an dem sie ihr erstes Paar hohe Schuhe tragen und leichtfüßig damit durch die Stadt spazieren würde. Auf den Moment, in dem die jungen Mädchen ihr neidische Blicke zuwerfen würden, weil sie schon erwachsen, schon eine Frau war.

Aber nein, neidisch würden die Blicke nicht sein. Voller Sehnsucht. Voller Ungeduld. Aber nicht neidisch.

Neid war ein Gefühl, das sich nicht gehörte.

Der Zug war noch nicht da und so tummelten sich kleine Schülertrauben an der Haltestelle, vertieft in ihre eigenen Gespräche und Gedanken. Die Sonne hatte die Stadt aufgewärmt und so wunderte Isabella sich nicht, dass Meredith, der die Hitze wegen ihrer langärmligen Bluse noch stärker zusetzen musste, sich in den Schatten eines kleinen Baumes stellte. Isabella selbst schloss die Augen und genoss das warme Kribbeln, das die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht hinterließen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne sich wieder monatelang hinter dicken Wolken verstecken würde.

„Stell dir vor, Amanda Brooks hatte angeblich einen Nervenzusammenbruch auf der Toilette.", erzählte Isabella aufgeregt, als ihr die Geschichte wieder einfiel, die ihre Freundinnen zwischen zwei Unterrichtsstunden erzählt hatten. "Eine Operation ihrer Mutter soll schiefgegangen sein und ihre Lippen sollen auf die dreifache Größe angeschwollen sein."

Als Meredith nicht antwortete, öffnete Isabella die Augen. Ihre Schwester starrte gedankenverloren auf die schmalen, silbernen Gleisstränge.

"Jedenfalls ist sie nach der Pause nicht mehr zurückgekommen.", plapperte Isabella weiter, ohne Meredith aus den Augen zu lassen.

"Meredith. Hörst du zu?"

„Was?" Endlich hob ihre Schwester den Kopf und blickte sie mit großen Augen an.

"Amanda Brooks! Ihre Mutter-"

"Ja. Ja, ich habe die Geschichte auch gehört." Merediths Stimme klang abwesend, und Isabella meinte sogar, eine leichte Verärgerung herauszuhören.

Schweigend standen die Schwestern nebeneinander und obwohl sich ihre Schultern fast berührten, fühlte sich Isabella, als wartete sie alleine auf den Zug.

Als sein Summen endlich lauter wurde und in weiter Ferne die Nase des Zuges auf sie zu kroch, war sie erleichtert, der Situation zu entkommen. Die Türen glitten auf, ein paar vereinzelte Fahrgäste verließen das Abteil und die Schülerinnen und Schüler stiegen geordnet nacheinander ein.

Isabella und Meredith ließen sich in einen Doppelsitz im hinteren Teil des Waggons sinken. Meredith richtete ihren Blick sofort wieder aus dem Fenster und wandte ihrer Schwester den Hinterkopf zu. Ihr Zopf hing unordentlich auf ihrem Rücken, als hätte sie ihn geöffnet und hastig wieder geflochten. Einzelne Haarsträhnen standen zur Seite weg. Obwohl es im Zug angenehm kühl war, rann eine Schweißperle ihren Nacken hinab und verschwand im Kragen ihrer Bluse.

Der Zug fuhr an und sie ließen das Schulviertel hinter sich. Die Straßen verschwammen zu bunten Streifen und zogen schemenhaft vor den Fenstern vorbei, die Menschen hoben sich wie bunte Farbkleckse von den hellen Fassaden ab.

"Hast du dich schon einmal gefragt, ob das alles richtig ist?", fragte Meredith plötzlich. Sie hatte so leise gesprochen, dass Isabella sich nicht sicher war, ob es tatsächlich ihre Schwester gewesen war, die gesprochen hatte. Doch da drehte Meredith ihren Kopf und sah sie mit ernsten Augen an. Ein trauriger Ausdruck hatte sich in ihr Gesicht geschlichen.

"Was meinst du?", fragte Isabella verwirrt.

„Wir sind nicht so geboren. So..." Meredith überlegte. "...so perfekt. Hast du noch nie darüber nachgedacht, wie es war, als die Menschen noch nicht alles verändern konnten, was sie gestört hat? Als jeder so sein konnte, wie er ist? Als sie einfach..." Sie starrte in die Luft, als versuchte sie, das passende Wort auf den Reklametafeln zu finden, die links und rechts an den Zugwänden angebracht waren.

"Als sie einfach Menschen waren?", sagte sie schließlich.

Isabella lachte auf. "Was redest du denn? Wir sind doch auch Menschen."

Noch einmal lachte sie, doch ihr Herz pochte schnell. Unauffällig warf sie einen Blick zur Seite, doch die Menschen um sie herum schienen in eigene Gespräche vertieft.

Trotzdem rutschte sie näher an ihre Schwester heran und senkte die Stimme.
"Wir wissen doch, wie es früher war. Sieh dir an, welche Möglichkeiten wir heute haben! Es wäre nicht fair, wenn wir so bleiben müssten, wie wir geboren wurden. Dafür kann doch niemand etwas. Hättest du lieber eine schiefe Nase oder ein zu großes Kinn oder-"

"Meinst du nicht, sie waren auch glücklich?", unterbrach Meredith sie mit so aufgebrachter Stimme, dass eine Frau in der Nähe sich zu ihnen umdrehte.

Isabella sah ihre Schwester erschrocken an. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als sie sich noch näher beugte. "Warum fragst du so etwas?"

Meredith zuckte mit den Schultern. „Es ist nur ein Gedanke. Vielleicht ist nicht alles richtig, was perfekt ist."

Sie lehnte ihren Kopf zurück und schloss die Augen. Einen Moment später hatte sie sich wieder in ihre Abwesenheit zurückgezogen.
Isabella wandte ihr Gesicht zum Fenster und ließ die Stadt an sich vorbeirauschen. Immer wieder öffnete sich der Blick auf die Mauer am Ende der Stadt. Immer wieder dieses kleine Stück weißer Stein.

Als der Zug den Jahrtausendplatz erreicht hatte, waren ihre Gedanken bereits wieder zurück zuAmanda Brooks und ihrer Mutter gewandert, auch wenn sie nicht mehr so sorglosdarüber lachen konnte, wie vorher.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt