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Meredith fuhr herum, blanke Panik im Gesicht. Ihre Augen wirkten riesig und schienen aus den Höhlen hervorzutreten. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. So musste eine Leiche aussehen, dachte Isabella, auch wenn sie noch nie eine gesehen hatte.

Meredith riss ihr Kopfkissen an sich, schob den Unterarm darunter und erkannte doch, dass es zu spät war. Der Blick in Isabellas Augen verriet, dass sie es gesehen hatte.

Da sprang sie auf und stürmte auf ihre Schwester zu. „Raus!", rief Meredith und Panik und Wut schwangen schrill in ihren Worten mit. „Mach, dass du rauskommst! Was fällt dir ein, mein Zimmer zu betreten, ohne anzuklopfen?"

Isabella spürte, wie die Hitze in ihr Gesicht schoss. Sie wollte sich verteidigen, wollte sagen, sie hätte angeklopft und wäre nur hier, um die Salbe zu holen. Doch sie blieb stumm und stolperte rückwärts aus dem Zimmer, bevor nur wenige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt die Tür ins Schloss krachte.

Ihr Herz raste noch, als sie die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich geschlossen hatte. Das Zeichen machte keinen Sinn und doch musste es der Grund für Merediths seltsames Verhalten in den letzten Tagen sein. Für ihre dauernde Abwesenheit, ihren sehnigen Rücken und die unachtsam geflochtenen Haare. Jetzt verstand sie auch, warum ihre Schwester lange Ärmel trug, die so gar nicht zu dem warmen Wetter passten.

Isabella ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken und starrte auf die leere, eingerollte Tube Scarimed, die sie auf dem Tisch zurückgelassen hatte. Wie konnte sich innerhalb weniger Minuten nur so viel ändern?

Sie wünschte sich, nicht in Merediths Zimmer gegangen zu sein und noch viel mehr wünschte sie sich, das Zeichen nie entdeckt zu haben.

„Aber was ändert das?", flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf. „Wenn du es nicht gesehen hättest, wäre es trotzdem da."

Wütend warf sie die Tube in den Mülleimer unter ihrem Schreibtisch und schlug ihr Schulheft auf, um sich mit Hausaufgaben abzulenken, doch nur wenige Minuten später klappte sie es wieder zu. Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen und immer wieder sah sie Meredith vor sich, wie sie, den Unterarm an ihren Körper gedrückt, auf sie zustürmte.

Vielleicht kam sie auf andere Gedanken, wenn sie sich an ihren Flügel setzte. Das Lied, das sie gerade übte, war sehr schwer und sie musste fokussiert sein, um nicht durcheinanderzukommen. Doch auch das gab sie nach kurzer Zeit auf. Ihre Finger zitterten so stark, dass sie einfach nicht die richtigen Tasten traf. Schließlich legte sie sich auf ihr Bett und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.

Was sollte sie nur tun? Sie musste es ihren Eltern erzählen, bevor sie es auf andere Weise herausfanden. Andererseits war Meredith ihre Schwester und sie wollte sie nicht verraten. Aber was, wenn das alles nur ein großes Missverständnis war? Vielleicht war es ein dummer Scherz und Meredith hatte sich das Zeichen nur aufgemalt.

Egal, was der Grund für das Zeichen auf Merediths Arm war - Amber Almond war Machthaberin über die Innere Strafverfolgung und wenn ihre eigene Tochter gegen die Gesetzte verstieß...

Isabella zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, die dunklen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Es war vergeblich.

Wenn Meredith tatsächlich ein Mitglied der Runner wäre - hätte dann nicht Imogene Burton davon wissen müssen?

Imogene war wie Isabellas Mutter eine Vertreterin des Hohen Rates. Da ihr die Abteilung des Bürgerwesens unterlag, war es ihre Aufgabe, Daten über sämtliche Bewohner der Stadt auf dem neusten Stand zu halten, zu protokollieren, wenn sich verdächtige Dinge ereigneten und sie in diesem Fall weiter zu überwachen. Sie arbeitete eng mit Amber zusammen, der sie regelmäßig Bericht erstattete. Imogene hätte ihr gesagt, wenn ihr Ungereimtheiten bei Meredith aufgefallen wären. Als enge Freundin der Familie kannte Imogene sie schon seit ihrer Geburt und obwohl, oder gerade weil die Almonds eine der angesehensten Familien der Stadt war, hatte Imogene ein besonderes Auge auf Isabella und Meredith. Schließlich diente ihre Arbeit weniger der Kontrolle, sondern sollte vielmehr die Sicherheit der Menschen garantieren und verhindern, dass sie unbewusst in Probleme gerieten. Wenn Imogene nichts davon mitbekommen hatte, dann konnte Meredith kein Mitglied der Runner sein, versuchte Isabella sich zu beruhigen. Doch so richtig konnte sie sich selbst nicht davon überzeugen.

Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus, still im Bett zu liegen. Sie schlug die Decke zurück, rappelte sich auf und ging ein paar Schritte zu ihrem Spiegel, der neben ihrer Tür angebracht war. Ihr eigenes Gesicht blickte ihr entgegen, blass und müde, das Makeup vom Kissen verschmiert. Der weiße Stoff ihres Oberteils klebte noch immer an ihrem Bauch, obwohl die Salbe längst getrocknet war. Sie sehnte sich nach einer Dusche, wollte sich die Sorgen abwaschen, die so unsichtbar an ihrem Körper lasteten.

Noch nie war sie in eine solche Zwickmühle geraten, nicht einmal, als sie vor ein paar Jahren nach einem Streit mit ihrer Mutter ihre Hausaufgaben nicht erledigt und deshalb eine Nachricht ihrer Lehrerin mit nach Hause bekommen hatte. Sie hatte den Brief tief zwischen den Federn ihres Kissenbezugs versteckt und ihn in den folgenden Nächten wie ein vorwurfsvolles Pochen unter ihrem Kopf gespürt. Es war das erste und einzige Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie etwas verheimlicht hatte und das schlechte Gewissen hatte sie so geplagt, dass sie nach wenigen Tagen eingeknickt war und ihren Eltern alles gebeichtet hatte. Die Woche Hausarrest hatte sie gern ertragen, dafür, dass diese fürchterlichen Schuldgefühle endlich verschwanden, die sie bis in die Nacht gequält hatten.

Doch jetzt war es etwas anderes. Es betraf nicht sie selbst, sondern ihre Schwester, und es ging auch nicht um ein paar vergessene Hausaufgaben. Nein, sie konnte es ihren Eltern nicht erzählen. Nicht, bevor sie Meredith die Chance gegeben hatte, ihr alles zu erklären. Sie würde ihr Zeit geben und bis nach dem Abendessen warten. Vielleicht sogar bis zum nächsten Morgen. Sicher würde Meredith von selbst zu ihr kommen und ihr erzählen, was es mit dem Zeichen auf sich hatte.

Isabella zog das Top über den Kopf und holte eine frische Bluse aus dem Schrank. Dann öffnete sie ihren Zopf und ließ die blonden Haare weich auf ihre Schultern fallen. Sie trug ihre Haare gerne offen und mochte es, wenn sie ihr in dicken Wellen über den Rücken flossen, doch ein Zopf war nun einmal ordentlicher. Sie teilte ihre Haare in drei Strähnen und begann, sie wieder sauber zu flechten. Wenn ihre Eltern nicht bemerken sollten, wie verwirrt sie in ihrem Inneren war, dann musste sie auch äußerlich wirken, wie immer.

Pünktlich um sieben Uhr rief Daisy sie nach unten. Isabella hatte es geschafft, sich weitgehend zu beruhigen und sogar ihre Hausaufgaben zu erledigen, wenn sie sich auch sicher war, dass sie nicht alle Matheaufgaben richtig gelöst hatte. Bestimmt würde sich die Sache aufklären, sagte sie sich selbst, als sie die Treppe nach unten stieg und doch machte sich eine nagende Aufregung in ihrem Brustkorb bemerkbar.

Runner - Die Jagd beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt