Erinnerungen

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Tom Mayer saß wieder in dem kleinen Büro neben dem Eingang, an dem man durch ein großes Glasfenster sehen konnte falls jemand die Wache betreten wollte.
Er konnte den Innendienst nicht leiden.
Egal ob am Funkgerät oder an der Eingangstheke, er langweilte sich einfach und es machte ihm hibbelig den ganzen Tag, fast nur rumzusitzen.
Er brauchte es sich ab und an bewegen zu können und ein wenig Aktion um die Ohren zu haben, wie das auf Streife eigentlich immer der Fall war.
Aber es half nichts, alle zwei Wochen musste auch er den Innendienst für drei Tage am Stück übernehmen.

Gedankenversunken saß er vor dem Computer und starrte die Akte an die er gerade bearbeitete.
Ein Bericht über eine Fahrt unter Trunkenheit, die er in der letzten Nachtschicht beendet hatte.
Der junge Mann war mit 1,5 Promille bei weiten nicht mehr fahrtüchtig gewesen und in Schlangenlinien durch Köln gefahren. Gott sei Dank war dabei nichts passiert, aber einen längeren Führerscheinentzug war dem Mann aufjedenfall sicher.

Tom seufzte, beendete dann schnell den Bericht und meldete sich anschließend vom Computer ab.
Mit düsterem Blick sah er hinaus auf den sonnendurchfluteten Hof der Wache, auf dem aktuell nur zwei Streifenwagen standen.
Die anderen waren schon seit heute Morgen unterwegs, anscheinend war es mal wieder ein unruhiger Tag an dem viel passierte.
Zum Glück war dies auf der Wache heute eher nicht der Fall, bisher war nur eine junge Frau da gewesen die einen Fahrraddiebstahl anzeigen wollte.
Das war Tom nur recht, er war heute schon mit miserabler Laune aufgestanden und hatte wenig Lust auf viele Unterhaltungen und ähnliches.

Jedes Jahr war der 4. Juli für ihn ein schrecklicher Tag, an dem er am liebsten nur im Bett liegen bleiben würde und die Welt um sich herum vergessen.
Aber dann würde seine Frau ihn fragen was los wäre und ganz sicher wollte er ihr nicht diesen Teil seiner Vergangenheit erzählen.
Er hatte sich geschworen einfach alles hinter sich zu lassen, was allerdings nur dazu führte, dass er sich dafür nur selber hasste und verachtete.
Denn damit, dass er damals davongerannt war, hatte er ein Versprechen gebrochen, welches er seinem besten Freund vor mehr als 12 Jahren gegeben hatte.

Heinz und er waren seit der 6. Klasse im Gymnasium die besten Freunde gewesen.
Als sie dann auch noch den gleichen Berufswunsch entwickelt hatten und zusammen auf die Polizeiakademie gingen, wurde ihre Freundschaft immer inniger und Heinzi und seine Freundin Nadine wurde für Tom immer mehr zu einer Ersatzfamilie.
Als Heinz und Nadine mit 22 heirateten war Tom sein Trauzeuge und auch als ein Jahr später die erste Tochter der beiden zur Welt kam war es Tom der gefragt wurde ob er der Patenonkel werden wolle.
Auch als nach sechs Jahren die zweite Tochter der beiden geboren wurde, war es wieder Tom der als Patenonkel bereitstand.

Als Nadine das erste Mal schwanger war hatte Heinz und er zusammen eine Zigarre geraucht. Damals hatte Heinz ihm das Versprechen abgenommen, dass Tom sich um seine Familie kümmern würde, falls ihm irgendwann mal etwas passieren sollte.
Natürlich hatte Tom ihm dieses Versprechen gegeben, niemals ahnend das er dieses wirklich irgendwann einlösen müsste.

Mit einem Kloß im Hals erinnerte Tom sich an den 4. Juli vor sechs Jahren.
Heinz und er hatten zusammen Spätdienst und waren auf Streife, als eine Ruhestörung in einem Mehrfamilienhaus reinkam.
Es ging in eine der heruntergekommenen Gegenden von Düsseldorf.
Dort angekommen erwartete die beiden Polizisten ein älterer Herr der berichtete, dass lautes Geschrei und Kampfgeräusche aus der Nachbarwohnung zu hören seien.
Er könne so nicht schlafen meinte er und begab sich dann wieder zurück in seine Wohnung.

Tom und Heinz klopften an der Nachbarwohnung aus der zu diesem Zeitpunkt kein Geräusch mehr zu hören war.
Ein Schrei war zu vernehmen, weshalb die beiden Beamten Verstärkung riefen.
Heinz brach die Wohnungstür auf und die beiden stürmten die Wohnung.
Ein Schuss war zu hören und Heinz sackte nur wenige Meter von Tom entfernt zusammen. Dieser schoss sofort auf den Mann der mit einer Waffe in der Wohnzimmertür aufgetaucht war.
Er traf den Mann an der Schulter, wodurch dieser hinfiel und die Waffe losließ.
Schnell legte Tom dem schreiend Täter Handschellen an und sicherte die Waffe, dann begab er sich zu Heinz.
Sein Kumpel lag auf dem Boden, pulsierend strömte Blut aus einer großen Wunde am Hals. Entsetzt starrte Tom auf die Wunde und blieb einige Sekunden erstarrt vor dem Verletzten hocken.

Dann reagierte er, rief panisch über Funk nach Unterstützung und einem NEF für einen verletzten Kollegen.
Er versuchte die Blutung zu stoppen, aber immer mehr Blut lief aus der Wunde und sickerte durch seine Hände auf den Boden. Eine große Lache bildete sich um Heinz Kopf. Noch bevor die Kollegen eintrafen hatte Heinz aufgehört zu atmen.
Seine Augen waren starr auf Tom gerichtet, während sein Blick in die Leere ging.

Bei dieser Erinnerung liefen wieder Tränen über Toms Gesicht und schnell wischte er diese weg.
Niemand auf der Wache Köln Mühlheim wusste was damals passiert war.
Monatelang hatte Tom dieses Bild von seinem sterbenden Kumpel vor sich gesehen, jedes Mal, wenn er zur Arbeit fuhr und während der langen Schichten auf der Wache in Düsseldorf. Nachts war er schweißgebadet aus Albträumen aufgeschreckt.
Nach vier Monaten hatte er es nicht mehr ausgehalten und seinen damaligen DGL gebeten ihn auf eine andere Wache, am besten in einer anderen Stadt zu versetzten.
Er musste einfach weg von allem oder er würde durchdrehen.
Daher war er sehr froh das im 40 Kilometer entfernten Köln, dringend ein Kollege gesucht worden war.

Anfangs hatte er noch den Kontakt zu Nadine und den beiden Kindern halten können, aber dieser brach nach einigen Monaten ab.
Nadine kam mit dem Tod ihres Mannes genauso wenig klar wie Tom und veränderte sich immer mehr.
Bald wollte sie nicht mehr das Tom sie und die beiden Mädchen besuchte und auch Telefonanrufe ignorierte sie zunehmend.
Als Tom zu Weihnachten anrief und nur ein „Kein Anschluss unter dieser Nummer" hörte, gab er auf und ließ Nadine in Ruhe.

Er brach sein Versprechen, das er Jahre zuvor seinem Kumpel gegeben hatte.
Das wusste er und das schlechte Gewissen deswegen nagte auch heute noch an ihm.
Er hoffte das Nadine sich wieder gesammelt hatte, dass es ihr und den Mädchen heute gut ging.
Aber er traute sich auch nicht nach ihr zu suchen und wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen, auch wenn er dies wirklich gerne tun würde.

Seiner Frau die er nach einem Jahr in Köln kennengelernt hatte, hatte er diesen Teil seines Lebens verschwiegen.
Zu groß war die Scham, dass er davongerannt war und Heinzi dadurch im Stich gelassen hatte.
Auch auf der Wache in Köln Mühlheim hatte er nie davon erzählt, er hatte einfach nicht von diesem schrecklichen Erlebnis berichten wollen.

Anfangs war es ihm im Köln besser gegangen, die neue Umgebung und die neuen Kollegen die ihn direkt herzlich aufgenommen hatten, das hatte ihm wirklich gutgetan.
Als allerdings drei Jahre später ein Kollege der Wache angeschossen worden war, war die Wunde erneut aufgerissen.
Wieder hatten ihn Albträume gequält und auch seine Freundin Amelie hatte bemerkt das etwas nicht mit ihm stimmte.
Sie hatte ihn damals überzeugt das er Hilfe brauchte, auch wenn er ihr nicht erzählt wollte, was ihn beschäftigte.
Ihr zuliebe war er damals zum Polizeipsychologen gegangen und natürlich hatte Amelie recht gehabt.
Er konnte vor dem Erlebten nicht ewig davon laufen.
Die Stunden beim Therapeuten hatten ihm sehr geholfen und heute konnte er mit dem Erlebten schon viel besser umgehen.

Ein Klopfen an der Scheibe riss Tom aus seinen Gedanken und er blickte auf. Eine streng dreinblickende Frau um die Vierzig stand vor dem Eingang und sah ihn durch die Scheibe an.

„Guten Tag, Pamela Rode mein Name. Ich bin vom Jugendamt und wurde informiert das sie eine namenslose Ausreißerin aufgegriffen haben."

Erklärte die Frau und Tom nickte.

„Moment ich mach ihnen die Tür auf."

Meinte er und drückte auf den Summer an der Ecke.
Dann ging er zur Eingangstheke, während die Frau durch die Tür hereinkam.

„Hier entlang"

bat er und deutete auf das Büro in dem Hannah, Ginound das Mädchen vor einer Stunde gegangen waren.

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