Keine Lüge

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Von dem älteren ging eine unglaubliche Ruhe aus, gleichzeitig hatte er aber auch das Gefühl, seine Worte waren scharf wie Messer, die ihm bei jedem falschen Wort die Kehle durchschneiden könnten. Auch wenn er sich recht freundlich gab, rückte Tobi unauffällig weiter weg, um sich etwas Raum zu verschaffen und beobachtete die beiden.
Bei Tims feindseligen Blicken hatte Tobi eigentlich gedacht, er würde ihn die ganze Zeit im Auge behalten, doch im Moment schien er nur Augen für den kleineren ächzenden Jungen neben sich zu haben, welchem er zärtlich durch die Haare fuhr. Er ging wirklich erstaunlich sanft und liebevoll mit ihm um.
Kein wunder, dass die beiden sich so gut verstanden. Draußen vernahm er das flattern von Flügeln. Da die beiden es nicht zu bemerken schienen, stand Tobi auf und öffnete das Fenster, welches sich durch den Wind wieder halb geschlossen hatte.
Die Eule kam hereingeflogen und landete neben Stegi, welcher ihr schwach über das Gefieder strich.
„ Er lügt nicht. Von dem Dorf ist fast nichts mehr übrig. Nur vereinzelt ein paar ausgebrannte Häuser und Ruinen von dem was dort mal stand. Überall lagen tote Eiselfen. Ich hab dort niemanden mehr leben sehen. So wie's da aussieht, hat wahrscheinlich kaum einer überlebt.", erklärte Nala traurig.
Tobi kamen die Tränen. Er hatte geahnt, dass es schlimm war, aber so schlimm? Wirklich gar nichts mehr stand noch? Es tat weh. Die Chance noch einen seiner Familie und Freunde, oder wenigstens irgendjemanden, den er im entferntesten gekannt hatte jemals wieder zu sehen sank gegen null.
Hemmungslos laut schluchzte er auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Entgegen seiner Erwartung wurde er aber sanft in den Arm genommen. Es war ganz klar Tim. Erst wollte er sich panisch lösen, doch der größere deutete ihm, dass er ihn trösten wolle und ihm nichts tun würde. Und das ließ Tobi auch zu.
„ Wie nah standest du zu deinen Geistern?", fragte Tim ihn ganz ruhig. Natürlich verfolgte er damit eine Absicht, aber im positiven Sinne für den anderen. Der schien diese im Moment aber nicht so recht erkennen zu können. Er schluchzte nur weiter und nässte Tims Schulter.
„ Sehr nah.", flüsterte er erstickt. Seine Hände krallten sich leicht in den Stoff an Tims Rücken, um etwas halt zu finden. Der andere drückte ihn leicht an sich und Streich ihm beruhigend über den Rücken. Mit sowas sollte keiner allein gelassen werden. Es musste schon ein komisches Bild abgeben.
„ Sch alles gut. Wir sind für dich da. Ich werd mal was probieren. Hoffentlich klappt das auch. Damit sollte es dir vielleicht ein wenig besser gehen.", flüsterte Tim beruhigen. Zwar hatte er es noch nie probiert mit anderen Geistern zu kommunizieren, aber wenn er sich Mühe gab und sich stark konzentrierte konnte es klappen. Er wollte Tobi wenigstens ein bisschen helfen.
Mittlerweile glaubte er nicht mehr, dass Tobi log. Um hier noch irgendwo zu lügen, da bräuchte es schon einiges. So verletzlich wie Tobi gerade wirkte, war es echt. Außerdem konnten Lilke Maie nicht lügen. Sie sagten immer die Wahrheit, oder wurden von der Elfe, zu der sie gehörten zum schweigen gebracht. Dann merkte man meist aber sofort, dass etwas nicht stimmte und das war dann auch blöd.
Viele versteckten ihre Lilke Maie daher, wenn sie beschuldigt wurden, um die Wahrheit zu vertuschen.
„ Tim?", krächzte es von drüben, wo Stegi noch lag. Sofort lag seine Aufmerksamkeit und sein Fokus auf dem kleineren, er behielt Tobi aber weiter im Arm, um ihn zu trösten. Etwas schien es zu helfen, da Tobi langsam ruhiger wurde.
„ Kannst du mich rüber bringen? Ich würde gerne ein bisschen schlafen. Nala flieg du noch schnell zu Nelaphine und erzähl ihr, was du gesehen hast." Stegis Stimme war brüchig und rau, was überhaupt nicht gut klang. Sanft drückte Tim Tobi von sich weg um geschwind Stegi rüber zu bringen. Er griff ihm einfach unter die Arme und Kniekehlen und trug ihn rüber in sein Bett, wo er ihn sanft drauf ablegte und zudeckte.
„ Ruh dich aus. Wenn was ist ich bin drüben." Sanft wuschelte er noch mal durch die dunkeln Haare, ehe er rüber ging. Stegis glasige Augen machten ihm ein wenig Sorge. Nicht dass er noch richtig krank wurde. Er war schon so blass und schwach.
Leise schloss Tim die Tür hinter sich. Was ein Tag. Und er würde noch gut anstrengend werden. Er setzte sich wieder zu Tobi auf den Boden, welcher ihn immer noch traurig anschaute.
„ Leg dich hin, Kopf zu mir. Ich möchte probieren, Kontakt zu deinen Geister aufzunehmen, damit du mit ihnen reden kannst. Du musst einfach nur still halten, die Augen schließen und an einen der Geister denken. Den Rest mach ich. Wenn sich das in den ersten Momenten komisch anfühlen sollte, ruhig bleiben, dass ist normal."
Fragend sah Tobi den anderen an, der nur nickend bestätigend. Also legte er sich flach auf den Boden, mit dem Kopf zu Tim. Etwas Angst hatte er zwar dennoch vor dem größeren, aber bei weitem nicht so viel, wie am Anfang. Seine Augen schlossen sich und er atmete langsam ein und aus, während er an Fina, eine ihrer Geister dachte.
Auch wenn Tobi selten mit ihnen geredet hatte, so hatte er doch den besten Draht zu ihr. Sie hatte ihm immer zugehört, wenn er Probleme hatte und stille Antworten mit dem Wind geschickt.
Unter ihrer Obhut hatte er sich immer wohl gefühlt. Eine Bindung auf so weite Entfernung musste auch für Tim schrecklich anstrengend sein. Nicht umsonst kommunizierten sie nur mit ihren eigenem Geistern. Tim zeichnete irgendwelche komischen Symbole auf seine Stirn und die Brust.
Ein ungewohntes und komisches Gefühl breitete sich vor allem in seinen Kopf aus, doch er blieb ruhig. Das Gefühl wurde immer stärker, breitete sich weiter über seinen Körper aus. Und plötzlich war es weg.
Alles um ihn herum verschwamm und er blieb in vollkommener stille zurück. Ihn umfing eine wohlige wäre, doch plötzlich wurde es kälter. Sehr viel kälter.
So wie er es eigentlich gewohnt war, wenn er mal mit den Geistern von Angesicht zu Angesicht gesprochen hatte. Gleich fühlte er sich ein Stück näher zu seiner Heimat, die es jetzt nur nicht mehr gab. Langsam öffnete er die Augen und sah sich um.

Von Geheimnissen, Komplexen und verbotener Liebe Stexpert/ Venation FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt