Kapitel 44

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Talea's Sicht

Das lautstarke Klingeln meines Handys riss mich aus dem Schlaf.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich orientiert hatte.
Ich war in Osmos Wohnung und lag auf der Couch in seinem Wohnzimmer. Offenbar war ich vor dem Fernseher eingeschlafen, während ich auf ihn gewartet hatte.
Wenn er mich jetzt anrief, um mir zu sagen, dass es etwas später wird, würde ich ihm definitiv den Kopf abreißen. Doch es war nicht Osmo.
Eine unbekannte Nummer leuchtete auf dem hellen Display.
Das war ziemlich ungewöhnlich.
Mich rief normalerweise nie jemand an, dessen Nummer nicht in meiner Kontaktliste gespeichert war.
Schon gar nicht mitten in der Nacht.  Nach kurzem Zögern nahm ich den Anruf entgegen.
"Hallo?", murmelte ich verschlafen. "Talea?"
Die Stimme am anderen Ende kam mir seltsam bekannt vor, doch ich konnte sie nicht zuordnen.
"Wer ist da?", fragte ich verwundert und warf einen erneuten Blick auf die unbekannte Nummer.
"Hier ist Samu. Es geht um Osmo."
Ich wollte ihn gerade wütend anfauchen und fragen, was ihm einfiel, mich einfach anzurufen, doch als er sagte, dass es um Osmo ging, wurde ich hellhörig.
Die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich beim merkwürdigen Klang seiner Stimme sofort auf.
Ich ahnte nichts gutes.

"Was ist mit Osmo?", fragte ich und hielt angespannt den Atem an.
"Wir hatten einen Unfall. Osmo ist im Krankenhaus.", sagte Samu leise.
Ich umklammerte das Handy in meiner Hand fester, während mein Herz begann zu rasen.
Nein, nein, nein.
"Wie geht es ihm? Was ist passiert?", fragte ich aufgebracht.
Meine Stimme brach und Tränen schossen in meine Augen.
Nur mit Mühe konnte ich sie noch zurückhalten.
Am anderen Ende der Leitung atmete Samu hörbar ein und aus.
"Es hat ihn ziemlich hart erwischt. Er musste operiert werden."
Seine Stimme klang schwach und verunsichert.
Als ich diese Worte hörte, strömten die Tränen ungehindert über mein Gesicht. Ein lautes Schluchzen drang aus meiner Kehle.

"In welchem Krankenhaus seid ihr?", fragte ich mit erstickter Stimme, während ich mit schnellen Schritten in mein Zimmer eilte, um mich anzuziehen.
Samu nannte mir den Namen und sagte dann noch etwas, das ich aber gar nicht wirklich wahrnahm.
Für mich zählte nur noch eins: Ich musste schnellstmöglich zu meinem Bruder.
"Okay. Ich rufe mir ein Taxi.", sagte ich und griff nach meiner Handtasche. "Talea, du musst nicht herkommen. Es ist mitten in der Nacht.", murmelte Samu.
Doch es war mir egal was er sagte.
Ich wollte zu Osmo.
Ich musste jetzt bei ihm sein.
Ganz egal, wie spät es war.
"Halt dich da raus, Samu.", fauchte ich. Ich war noch immer nicht besonders gut auf ihn zu sprechen.
Eigentlich hatte ich mir sogar vorgenommen, nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln.
"Okay.", antwortete er leise und seufzte. Für einen kurzen Moment dachte ich, er hätte aufgelegt, doch dann hörte ich erneut seine heisere Stimme.
"Talea?"
Die Art, wie er meinen Namen aussprach, klang wie eine Frage.
"Ja?", murmelte ich, während ich in meine Schuhe schlüpfte.
"Pass auf dich auf.", sagte er leise und legte dann auf.
Es fiel mir schwer ihn zu hassen, wenn er so mit mir sprach...

Geistesabwesend schnappte ich mir meine Jacke und den Schlüssel und eilte dann die Treppen hinunter.
Nur knapp 400 Meter von Osmos Wohnung entfernt, befand sich ein kleiner Busbahnhof.
Mit schnellen Schritten machte ich mich auf den Weg dorthin, in der Hoffnung, dort ein Taxi ergattern zu können.
Ich hatte Glück.
Hektisch öffnete ich die Tür des Wagens, stieg ein und nannte dem Fahrer ohne jegliche Erklärung den Namen des Krankenhauses, in das Osmo offenbar gebracht worden war. Mein Finnisch war zu schlecht und ich war ohnehin nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Aber der Fahrer hatte offenbar bemerkt, in was für einer Situation ich mich befand.
Er fragte nicht weiter nach, fuhr viel zu schnell und missachtete sämtliche Verkehrsregeln.
Glücklicherweise waren die Straßen wie leergefegt. Wie sollte es um kurz nach 1 Uhr Nachts auch anders sein...

Nach etwa 10 Minuten, die sich wie eine halbe Ewigkeit angefühlt hatten, hielten wir vor einem riesigen Gebäudekomplex.
Ohne Umschweife reichte ich dem Fahrer einen 20 Euro Schein und stieg hektisch aus. Ich bedankte mich noch einige Male und lief dann in das Krankenhaus.
Die ältere Dame, die am Empfang saß, beäugte mich kritisch als ich mich dem Tresen näherte.
Schwer atmend erklärte ich ihr, zu wem ich wollte und folgte dann ihrer Wegbeschreibung.
Sie war offenbar darüber informiert worden, dass ich irgendwann hier aufschlage.
Ansonsten hätte sie mich niemals mitten in der Nacht einfach so auf die Station gehen lassen, auf der sich Osmo befand.
Die Besuchszeiten begannen laut Aushang morgens um 9 Uhr und endeten abends um 18 Uhr.
Glück gehabt.

Drei Etagen nach oben, den langen Gang entlang und am Ende nach links. Diese Worte wiederholte ich in Gedanken immer wieder, während ich mit zitternden Knien durch das bedrückend stille Krankenhaus lief. Weit und breit war niemand zu sehen. Niemand, der mir den Weg weisen könnte, wenn ich mich in einem der kilometerlang scheinenden Gänge verlief.
Als ich den Türöffner betätigte, der die Tür zur Intensivstation öffnete, wurde mir noch mulmiger zumute.
Eine Krankenschwester, die mich offenbar schon bemerkt hatte, kam mir entgegen.
Auch sie schien zu wissen, zu wem ich gehörte.
"Sie sind die Schwester von Herrn Ikkonen.", sagte sie halb fragend, halb feststellend und sah mich eindringlich mit ihren blauen Augen an.
"Ja. Ich bin seine Schwester. Was ist passiert?", fragte ich aufgebracht, während die Angst mir immer mehr die Kehle zuschnürte.
"Ihr Bruder hatte einen Unfall und musste operiert werden. Wir haben ihn im Anschluss an die OP in ein künstliches Koma versetzt.", erklärte sie ruhig, während sie mich den Gang entlang begleitete.
"Oh mein Gott.", flüsterte ich erstickt und schlug die Hände vors Gesicht.
Was für ein Horrorszenario.
Ich war kurz davor durchzudrehen, doch die Krankenschwester versuchte mich zu beruhigen.
"Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Beruhigen Sie sich.", sagte sie sanft und tätschelte meinen Rücken.
Ich zitterte am ganzen Körper.

"Ich muss zu ihm. Kann ich zu ihm?", murmelte ich leise und versuchte die Tränen zurückzuhalten.
"Natürlich. Zimmer 307. Der Freund Ihres Bruders ist bereits da. Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie noch etwas brauchen."
Mit diesen Worten bedeutete sie mir freundlich, ins Zimmer zu gehen, und entfernte sich dann wieder.

Forever Yours / Samu & TaleaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt