Kapitel 48

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Talea's Sicht

Bevor ich mich noch mehr in meine Ängste und die negativen Gedanken hineinsteigern konnte, hörte ich, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss. Samu kam zurück.
Ich setzte mich aufrecht hin, straffte die Schultern und wischte mit dem Ärmel meines schwarzen Pullovers die Tränen aus meinem Gesicht.
Ich wollte nicht, dass er mich ständig so niedergeschlagen und verheult ertragen musste. Immerhin war auch er beim Unfall verletzt worden und brauchte Ruhe, um sich davon zu erholen.
"Du bist ja schon wieder da."
Er klang niedergeschlagen.
Als ich mich zu ihm umdrehte, fiel mir sofort der Verband an seiner Schulter auf, der offenbar erneuert worden war. Das weit ausgeschnittene graue T-Shirt, das er trug, gab die Sicht darauf frei und entblößte auch die Hämatome über seinem Schlüsselbein und an seinem Hals, die womöglich vom Sicherheitsgurt stammten.
"Alles in Ordnung?", fragte ich und versuchte mögliche Reaktionen auf seinem Gesicht abzulesen.
Samu ging zum Bett und ließ sich wie in Zeitlupe auf die Kante sinken.
"Alles bestens. Meine Schulter macht nur ein paar Probleme. Aber wahrscheinlich werde ich in ein oder zwei Tagen entlassen.", murmelte er. Seine Freude darüber schien sich jedoch in Grenzen zu halten.
"Das ist doch toll.", gab ich zurück und setzte ein Lächeln auf.

Den Rest des Tages wich ich kaum von Osmos Seite.
Ich telefonierte mit meiner Mutter und erzählte ihr, was passiert war, während ich seine Hand hielt.
Sie war bereits in der Nacht von Osmos Vater darüber informiert worden, den er bei einem Krankenhausaufenthalt in der Vergangenheit als Notfallkontakt hinterlegt hatte.
Als ich mit ihr sprach, machte sie allerdings den Eindruck, als hätte sie sich schon wieder etwas gefangen und das Geschehene zumindest ansatzweise verarbeitet.
Zum Glück.
Ich musste ihr mehrfach versprechen, dass ich mich gut um ihn kümmern und sie über seinen Zustand auf dem Laufenden halten würde.
Sie hatte sogar in Erwägung gezogen, selbst nach Helsinki zu fliegen, um bei ihm zu sein, doch das hatte ich ihr schnell wieder ausgeredet.
Wenn Osmo aus dem künstlichen Koma erwachte, brauchte er Ruhe.
Das aufgebrachte Verhalten meiner Mutter war in solchen Momenten eher wenig förderlich.
Wenn einer ihrer Liebsten sich in so einer Situaton befand, war sie wie ein aufgescheuchtes Huhn. Sie meinte es ganz bestimmt nicht böse, doch sie konnte ihre Emotionen dann einfach nicht im Zaum halten.

Ich bekam gar nicht mit, dass es Draußen währenddessen langsam immer dunkler wurde.
Erst als Samu sich neben mich setzte, sah ich kurz auf und streckte mich. Meine Aufmerksamkeit galt fast den ganzen Tag lang meinem Bruder, der in diesem Bett lag und aussah als würde er einfach nur schlafen.
Ich machte mir große Sorgen um ihn und verzweifelte immer mehr.
Würde er bald aufwachen?
Würde er das alles unbeschadet überstehen?
Würde er wieder so sein wie vor dem Unfall?
Unzählige Gedanken gingen mir immer wieder durch den Kopf und hielten mich davon ab, auch nur für einen kurzen Moment an etwas anderes zu denken.
Ich war beinahe krank vor Sorge.

"Es ist besser wenn du nach Hause fährst. Du musst schlafen.", murmelte Samu und sah mich eindringlich an. Das Zimmer war in fahles gedimmtes Licht getaucht, doch die Besorgnis in seinen Augen entging mir trotzdem nicht.
Das war unmöglich.
Ich konnte nicht einfach gehen.
Ich musste hier bei Osmo bleiben.
Die Einsamkeit und die erdrückende Stille in seiner Wohnung waren das letzte, das ich jetzt ertragen konnte.
"Du verstehst das nicht. Ich kann nicht gehen.", murmelte ich, erhob mich von meinem Stuhl und umrundete das Bett. Samu tat es mir gleich und folgte mir zum Fenster.
Draußen war es inzwischen stockdunkel. Nur das Licht vereinzelter Laternen erhellte den Weg, der sich durch den großen Park schlängelte, den man von diesem Zimmer aus sehen konnte.
"Warum nicht?", flüsterte Samu.
Mit dieser Frage hatte ich gerechnet. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich einfach nicht alleine sein wollte, dass ich nicht alleine sein konnte.
Es fühlte sich entwürdigend an, das vor ihm zugeben zu müssen.
Schwäche zu zeigen bedeutete, sich angreifbar zu machen. Und genau das wollte ich nicht. Schon gar nicht vor ihm.
"Sag schon.", murmelte er und stuppste sanft mit dem Oberarm gegen meine Schulter.
Seine liebevolle und fürsorgliche Art ließ mich fast vergessen, was für ein Arsch er eigentlich war.
Zumindest war er das, nach allem was passiert war, in meinen Augen.
"Ich ertrage es einfach nicht, alleine in seiner Wohnung zu sitzen und zu wissen, dass er nicht nach Hause kommt. Ich will nicht alleine sein und ich will auch ihn nicht alleine lassen."

Tränen lösten sich aus meinen Augenwinkeln, noch bevor ich den Satz beendet hatte.
Ich schluchzte leise und hielt den Blick starr aus dem Fenster gerichtet, damit Samu mich nicht so sah.
Nicht schon wieder.
Doch er hatte längst bemerkt, was mit mir los war.
"Hey. Nicht weinen.", flüsterte er und legte seinen Arm um mich.
Spätestens da konnte ich mich nicht länger zurückhalten.
Tiefe Schluchzer erschütterten meinen ganzen Körper, während ich den Tränen freien Lauf ließ.
Samu zog mich an seine Brust und streichelte über meinen Rücken, um mich zu beruhigen.
Meine Tränen landeten auf seinem grauen T-Shirt und hinterließen nasse Flecken. Doch das schien ihn nicht zu stören.
"Beruhig dich.", flüsterte er und legte sein Kinn auf meinen Kopf, da er gute 20 Zentimeter größer war als ich. Normalerweise hätte ich so viel Nähe gar nicht erst zugelassen.
Nicht nach all dem, was zwischen uns passiert war.
Doch daran verschwendete ich in diesem Moment keinen einzigen Gedanken.
Ich war einfach nur froh, dass er für mich da war und mir in dieser schwierigen Situation Halt gab.
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Meine Beine drohten schon bald unter mir nachzugeben, während ich einfach nicht aufhören konnte zu heulen.
Ich war einfach zu fertig und zu kraftlos, um noch länger aufrecht zu stehen.
"Komm mit und leg dich ein bisschen hin.", murmelte Samu und schob mich behutsam vor sich her zum Bett. Ziemlich unelegant ließ ich mich darauf sinken, zog die Beine an meinen Körper und drehte mich auf die Seite. Noch immer rannen die Tränen unaufhörlich über mein Gesicht.
Samu stützte sich auf dem Unterarm ab und beugte sich zu mir herunter.
"Alles wird gut.", füsterte er und streichelte weiter über meinen Rücken, um mich zu beruhigen.
Das Krankenhausbett war nicht besonders groß, doch seine Nähe war keinesfalls unangenehm.
Leider.
Im Gegenteil.
Es hatte etwas beruhigendes und beschützerisches an sich.

Forever Yours / Samu & TaleaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt