Kapitel 47

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Talea's Sicht

Irgendwann kam die behandelnde Ärztin ins Zimmer. Eine großgewachsene Frau mittleren Alters, mit schlanker Statur und kurzen blonden Haaren.
"Sie sind die Schwester von Herrn Ikkonen?", fragte sie und streckte mir freundlich lächelnd die Hand entgegen. "Ja. Ja, das bin ich.", antwortete ich und erwiderte ihren festen Händedruck. Innerlich machte ich mich schon mal auf einen ausführlichen Bericht über die OP und die unzähligen Verletzungen gefasst, die Osmo davongetragen hatte.

Nachdem die Ärztin sich kurz nach Samus Zustand erkundigt hatte, erläuterte sie mir detailliert aber trotzdem verständlich, was bei dem Eingriff gemacht worden war, wie schwer die Verletzungen wirklich waren und wie die Chancen auf baldige Genesung standen.
Auch wenn viele Dinge die sie sagte mich alles andere als positiv stimmten, betonte sie mehrmals, dass die Wahrscheinlichkeit, dass mein Bruder bald wieder ganz der Alte sein würde, relativ groß war.
"Es ist gut, dass Sie für ihn da sind. Auch wenn es so scheint, als würde er nicht mitbekommen was um ihn herum geschieht. Doch es ist sogar wissenschaftlich bewiesen, dass Komapatienten es teilweise wahrnehmen, wenn man mit ihnen spricht oder zum Beispiel ihre Hand hält."
Die Ärztin lächelte aufmunternd und blickte zwischen Samu und mir hin und her.
"Wie lange wird es noch dauern?", fragte ich zögernd.
Obwohl sie mir durchaus Mut gemacht hatte, brannten Tränen in meinen Augen. Ich hatte wahnsinnig große Angst um meinen Bruder.
Das war Samu, der dicht neben mir stand, nicht entgangen.
Er legte tröstend seine große Hand auf meine Schulter und signalisierte mir so, dass er für mich da war.
Ich war dankbar für seine Unterstützung.
Immerhin hatte ich hier in Helsinki sonst niemanden außer Osmo.
Keine Freunde und auch keine anderen Familienmitglieder.
"Wenn alles gut läuft, dauert es noch vier bis fünf Tage. Wenn er stabil ist, können wir ihn aus dem künstlichen Koma holen.", sagte sie und notierte etwas in der Krankenakte, die auf dem Tisch neben dem Fenster lag.
"Okay.", murmelte ich niedergeschlagen und ließ mich auf den Stuhl neben dem Bett fallen, der noch immer da stand, wo Samu ihn in der vergangenen Nacht für mich hingestellt hatte.

Vier bis fünf Tage.
Das war ein überschaubarer Zeitraum, doch ich wusste, dass es sich anfühlen würde wie eine verdammte Ewigkeit.
Bis dahin wollte ich, so gut es eben ging, für meinen Bruder da sein.
"Kann ich irgendwas tun?", fragte ich und verschränkte meine kalten Finger miteinander, um ihnen etwas zu tun zu geben.
Die Ärztin lächelte mich mitfühlend an und sagte: "Gehen Sie nach Hause. Schlafen Sie sich aus. Dann können Sie ein paar Sachen für Ihren Bruder zusammenpacken. Natürlich können Sie jederzeit wieder herkommen. Das Klinikpersonal ist informiert."
Sie nickte uns nochmal freundlich zu und verschwand dann aus dem Zimmer.

Nachdem ich eine Weile geistesabwesend aus dem Fenster gestarrt hatte, kam Samu zu mir und legte seine Hände sanft auf meine Schultern.
"Sie hat recht. Geh nach Hause und ruh dich aus. Ich melde mich bei dir, wenn es Neuigkeiten gibt.", sagte er sanft. Aber ich konnte nicht einfach gehen. Ich konnte Osmo nicht alleine lassen.
Zumindest nicht länger als ein oder zwei Stunden.
"Ich fahre schnell nach Hause, hole ein paar Sachen und dann komme ich wieder her.", sagte ich und nickte entschlossen, während ich mich vom Stuhl erhob und durchs Zimmer schlurfte.
Ich zog mir die Jacke über und verstaute mein Handy in der Tasche. Bevor ich zur Tür ging hielt ich nochmal kurz inne und wandte mich Samu zu.
"Brauchst du noch irgendwas? Ich meine, soll ich dir was mitbringen, oder so?"
Noch bevor ich den Satz zu Ende ausgesprochen hatte, kam ich mir unendlich bescheuert vor.
Was wollte ich ihm denn mitbringen? Klamotten von Osmo?
Wohl kaum, denn ich war mir ziemlich sicher, dass Samu nicht in seine T-Shirts und Jogginghosen hineinpassen würde. "Danke. Nicht nötig. Meine Mutter kommt gleich vorbei und bringt mir alles was ich brauche.", entgegnete er. Ich nickte, verließ das Zimmer und machte mich dann auf den Weg zu Osmos Wohnung.
Eilig zog ich einen großen Rucksack aus dem Schrank im Flur und begann alles darin zu verstauen, was er meiner Meinung nach benötigte.
Saubere Kleidung, seine Zahnbürste, Duschgel und Shampoo, sein Handyladekabel und sein Tablet.

Nachdem ich mehrfach überprüft hatte, ob an alles gedacht war, stieg ich unter die Dusche.
Das warme Wasser entspannte meine Muskeln und half mir dabei, mich zumindest ein bisschen frischer und lebendiger zu fühlen.
Nachdem ich den Schock der vergangenen Nacht zumindest teilweise abgewaschen hatte, zog ich mir etwas frisches an und begann dann auch ein paar Sachen für mich einzupacken.
Ich wollte bei Osmo bleiben.
Er brauchte mich.

Nach knapp zwei Stunden machte ich mich wieder auf den Weg ins Krankenhaus. Mit der S-Bahn, die nur einige hundert Meter von der Wohnung entfernt abfuhr, hatte ich mein Ziel nach nicht mal 20 Minuten erreicht.
Ich betrat das Gebäude, in dem tagsüber reges Treiben herrschte, steuerte geradewegs auf den Aufzug zu und fuhr in die dritte Etage.
Die Krankenschwestern auf dieser Station kannten mich anscheinend schon. Sie nickten mir freundlich zu und schienen nicht wirklich überrascht über mein Auftauchen, obwohl Besucher hier auf der Intensivstation eher selten waren.

Samu war nicht da, als ich das Zimmer betrat. Ich stellte die Taschen an der Wand ab und nahm dann wieder meinen Platz an Osmos Seite ein, der mir mittlerweile beängstigend vertraut geworden war.
Seufzend ergriff ich seine Hand und streichelte mit meiner anderen in einem gleichmäßigen Rhythmus über seinen Arm.
Meinen geliebten Bruder so zu sehen, nur weil irgendein Verrückter da Draußen die Kontrolle über sein Auto verloren hatte, war die Hölle.
Immer und immer wieder traten Tränen in meine Augen und ließen meine Sicht verschwimmen.
Wir hatten so viele Pläne gehabt, doch jetzt lag er hier und ich wusste nicht, ob wir die Dinge, die wir uns vorgenommen hatten, jemals zusammen erleben würden.

Forever Yours / Samu & TaleaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt