Prolog

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Dröhnend laute Musik erfüllt das Wohnzimmer. Schrecklicher Elektropop, der die Leute zum Tanzen bringt. Den Raum umhüllt der Geruch von Alkohol, gemischt mit stickiger Luft, die mich zu einem offenen Fenster zwingt.

Tief atme ich ein. Auf der Straße leuchten Laternen und lassen die beiseite geschippten Schneetürme glänzen. Bitter rinnt das Bier über meine Kehle, als ich den letzten Schluck aus dem Plastikbecher nehme. Jetzt nichts mehr, sage ich mir. Ich habe schon zu viel getrunken. Ein Freitagabend ist keine Ausrede für einen Totalausfall.

Trotzdem schwankt der Boden bereits, als ich mich zum Treppengeländer bewege und sobald Erik vor mir auftaucht, erschrecke ich. „Jungkook!", sagt er mit lauter Stimme, um den Bass zu übertönen. Er legt mir die Hand auf die Schulter. „Wie gefällt's dir?"

Es ist seine Party. Erik wohnt in dem größten Haus, das ich jemals gesehen habe. Eine Villa mit drei Stockwerken, Pool und riesigem Wohnzimmer das geradezu prädestiniert ist, um große Feiern zu schmeißen. Zu seinem 19. Geburtstag habe ich mir auch nichts anderes vorgestellt, als ein überfülltes Untergeschoss mit reichlich Alkohol und der halben Oberstufe als Gäste. „Ja, ist cool hier."
„Willst du Bierpong spielen? Uns fehlen noch zwei."
Mein Kopf schwirrt. Von Bierpong war ich noch nie ein großer Fan. „Nein danke."
Erik zuckt mit den Schultern und will gerade gehen als ich ihn am Stoff seines T-Shirts festhalte. „Kann ich irgendwohin, wo es ruhiger ist?"
Mit dem Finger zeigt er nach oben. „Hoch. Aber nur du, okay?"
Ich nicke. „Danke."

An der Seite rempelt mich jemand an und Erik verschwindet in der Menge Richtung Garten. Der Alkohol lässt ihm warm werden, sodass er trotz der herbstlichen Kälte keine Winterjacke anzieht. Über die Fensterfront entdecke ich meine Freunde am Gartentisch. Lukas und Christian stehen vor den in pyramidenform platzierten Bechern und werfen nacheinander einen Pingpongball quer über die Tischfläche. Warum bin ich nicht bei ihnen?

Oben, er meinte ich könnte in den zweiten Stock. Deshalb steige ich die Treppe hinauf, meine Hand liegt dabei fest am Geländer. Die Musik wird leiser, die Luft angenehmer, als ich auf den ebenen Untergrund trete. Es ist dunkel, nur in dem hintersten Zimmer des kleinen Flurs brennt Licht, der durch eine Glastür gesichert ist. Im nächsten Moment erlischt es. Jemand ist Zuhause?

Eine riesige exotische Pflanze türmt sich gleich neben dem Gang und leitet nach rechts weiter zu einem offenen Wohnzimmer mit Fernseher und einer Couch, die nichtmal in mein Zimmer passen würde. Dahinter befindet sich ein Balkon mit Blick auf die beleuchteten Gartenanlagen, die allesamt vom Schnee verdeckt werden.

Die Glastür ist einen Stück weit geöffnet und lässt das Geräusch eines dumpfen Husters hindurch. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Becher noch zwischen meinen Fingern klemmt. Erik meinte, dass niemand zuhause sei. Vielleicht ist es eine Katze oder ein Einbrecher. Bei so vielen Leuten verliert man schnell den Überblick. Ich sollte nachsehen, vorsichtshalber. Für das Gemeinwohl.

Meine Füße tragen mich über das Parkett bis ich am Türrahmen halt mache. Die Tür ist einen Spalt geöffnet. Wenn ich reingehe, sollte es in Ordnung sein.

Jemand sitzt aufrecht in einem Bett. Das Zimmer hat einen Schreibtisch, Regale und einen großen Wandschrank mit Spiegeln. Ein Kinderzimmer, oder zumindest kein Gästequartier oder Elternschlafzimmer. „Erik?" Erneutes Husten. Tiefe Stimme, es ist ein Junge.
„Erik ist unten", antworte ich.

Hat Erik Geschwister? Nicht, dass ich wüsste. In der Schule verstehen wir uns blendend, doch außerhalb kriege ich ihn fast nie zu Gesicht. Nicht mehr.

Ich trete einen Schritt in den Raum. Die Rollläden sind nicht heruntergefahren. Der Mond scheint hell zum Fenster herein. Dort wo sein Kopf sein sollte, sehe ich trotzdem nur einen schwarzen Fleck. „Ich kann nicht schlafen." Seine Hände gleiten hoch und reiben sich die Augen oder das Gesicht. Ich kann es nicht erkennen, denn seine Finger sind in schwarz getunkt ehe sie wieder auf die Decke sinken.

„Ich wollte dich nicht stören. Ich gehe wieder."
„Bitte geh, Erik." Seine Stimme ist leise, kaum hörbar.

Erik, ich bin nicht Erik. Aber das scheint er nicht zu bemerken. Bereit zu gehen, tapse ich schon zurück zum Zimmereingang und erwische einen Zentimeter, der Licht auf die Bettkante wirft. Ein Gerät, ich weiß nicht was es ist. Wieder hustet der Junge beschwerlich. „Geht es dir gut?", frage ich.
„Mir geht es nie gut."

Mit meinem Alkoholpegel sollte ich ihn lieber allein lassen, bevor ich noch etwas falsches mache. Von dem Gerät führt ein dünner Schlauch auf das Bett und verschwindet in der Dunkelheit.

Auf einmal bleibt er still. Im Raum höre ich einen Luftfilter, ein beständiges Rauschen, das von dem Schreibtisch tritt. Leise piept das Gerät, wie ein Herzschlag der regelmäßig pocht. Ein Alarm? Ich kann nicht sagen, ob es schon vorher da war.

Sicherheitshalber bewege ich mich an die Bettkante, auf der ich mich niederlasse. Mit der Hand taste ich seine Wange und tätschle leicht gegen sie. Seine Haut ist warm, er zieht meine Hand jedoch von ihr. Begleitet von einem Knipsen, schaltet sich ein schwaches Licht an. Die Hand des Jungen befindet sich hinter seinem Kopf, am Schalter einer Bettlampe. Monoaugenlieder, bei genauerem Hinsehen bemerke ich, dass er sie nur an einem Auge hat. Es braucht ihn einen Moment, bis er meine findet. „Wer bist du?", fragt er.

Ich kenne niemanden aus der Schule, der nahezu so aussieht wie ich. Asiatische Wurzeln, aber grüne Augen. Mein plumpes Braun kommt mir auf einmal gewöhnlich und uninteressant vor.

Unter der Nase des Jungen befindet sich ein milchig durchsichtiger Schlauch, der sich teilend in seine Nasenlöcher führt. Hinter seinen Ohren verschwindet er, wie die Bügelspitzen einer Brille und verbinden sich zuletzt mit dem Gerät.
„Ich kenne Erik. Er ist ein Freund", antworte ich. Es ist eine Untertreibung, denn eigentlich sind wir beste Freunde. Wir kennen uns schon ewig und vertrauen einander blind. Den Jungen will ich aber nicht damit noch weiter verwirren.

„Ein Freund", wiederholt er. Er schließt die Augen. Sekunden vergehen und er öffnet sie wieder. Befangen schaut er an mir vorbei. Die träge Stimme und die moosgrünen Augen, die ihm jede Sekunde drohen zuzufallen, wirken auf mich alles andere als normal. Doch was ist das schon, Grünäugiger? „Hast du Schlafmittel genommen?", frage ich.
„Sowas in der Art." Er legt seine Stirn in seine Hände, als hätte er schreckliche Kopfschmerzen.

Zum Gähnen hält er sich dann die Hand vor den Mund. Die dunkelbraunen Locken zwirbeln sich willkürlich in der Luft. Frisch gewaschenes Haar, in meine Nase steigt ein süßlicher Duft. Ich bezweifle, dass er keine glatten Haare hat.

Unvermittelt kippt sein Kopf vorwärts, als wäre seine Stirn schwer wie Blei und lasse seinen Rücken krümmen. Aber es ist nur die Müdigkeit, die seine Wange auf meine Schulter drückt. „Ich kann so schlecht schlafen, damit", murmelt er.

„Ich sollte nicht hierbleiben", sage ich und versuche seinen Kopf von mir zu drücken.
Er antwortet nicht mehr. Seine Augen geschlossen und sein Atem ruhig und beständig, fällt er sanft in sein Kissen. Ich mustere sein Gesicht noch für einen Moment, ehe ich den Raum verlasse.

Die Tür schließe ich lautlos und verharre vor ihr. Erik hat mir nie erzählt, dass er einen Bruder hat. Aber vielleicht ist er das auch nicht, sondern nur irgendein entfernter Cousin.

Auch wenn er es wäre, sehe Eriks Bruder ganz anders aus als er. Denn Erik ist Europäer, mit großen Augen und holzbraunem Haar, weder an ihm noch an seinen Eltern sieht eine Sache asiatisch aus.

Hitze | VkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt