Epilog

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„Das Wetter ist schön heute."

Die Griffe von Taes Rollstuhl ruhen in meinen Händen und ich schiebe ihn langsam durch den Garten der Rehaklinik. Tae ist bereits 19, genauso alt wie ich es damals war, als wir uns kennenlernten. Es wäre mir nicht möglich, ihn so häufig zu sehen, wenn ich nicht nach meinem Schulabschluss eine Ausbildung hier begonnen hätte. Meine Mutter ließ es nur zu, weil ich ihr versprach, sobald ich fertig bin, zumindest die Medical Pre-School zu absolvieren und wirklich in Erwägung zu ziehen, Arzt zu werden. Und ich könnte es mir vorstellen. Immerhin fing ich hier an, weil mir durch Tae so bewusst wurde, wie wichtig es ist, dass es Menschen gibt, die anderen Menschen helfen wollen.

„Du musst deine Pausen nicht immer mit mir verbringen", erwidert Tae, ohne zu mir nach hinten zu sehen. Seine Haare sind länger, als sie es noch vor zwei Jahren waren und unordentlich, vom vielen Liegen auf seinem Bett hier in der Rehaklinik, die keine Stunde von unserer Heimatstadt entfernt ist. Bis Tae am 25. Dezember seine Lungentransplantation bekam, studierte er für ein paar Wochen in der Uni in der nächst größten Stadt. Biologie, dabei meinte er noch bei der Bewerbung, dass er dieses Fach hassen würde. Er tut aber nur so, denn sobald er anfängt über Mikroben und das komplexe Innenleben im vom Bakterien besiedelten menschlichen Körper zu reden, blüht etwas in ihm auf.

Tae zieren keine Male mehr. Außerdem ist er reifer geworden. Erwachsener. Wirkt glücklich, vielleicht für das erste Mal so richtig. Gerade paart es sich nur mit der unfassbaren Müdigkeit, die er nach der sechs-stündigen OP erlitt. Damit er in den Rollstuhl kommt, musste ich ihn eigenhändig aus seinem Bett heben. Er kann nichtmal richtig alleine sein Fleisch schneiden, so schwach ist er noch. Aber es wird wieder. Langsam aber sicher. Die frische Luft sollte ihm an diesem Januarmittag guttun.

„Natürlich verbringe ich sie mit dir", sage ich.
Tae wendet seinen Kopf zu mir nach hinten und ich blicke in sein abgemagertes Gesicht. Sein Kinn wird von seinem Wollschal verhüllt. Ein sanftes Lächeln ziert seine Lippen und seine Wangen werden warm. Obwohl er gerade erst diese OP hinter sich brachte, sieht er gesünder aus, als je zuvor.

Noch eine Sache hat sich an Tae verändert: er trägt keine Kabel mehr. Seit der OP nicht mehr.

Ich erwidere sein Lächeln.
„Können wir irgendwo anhalten?", fragt er und wendet seinen Kopf wieder nach vorn.
„Natürlich."
Ich steuere eine Bank vor einem Teich an. Ich schiebe Tae so, dass er neben dem Bankstück und somit neben mir sitzt, als ich mich niederlasse. Meine Hand lege ich auf sein Bein. Tae lehnt seinen Kopf zu mir und lässt ihn auf meiner Schulter ab. Beschwerlich atmet er aus. Es ist immer noch hart für ihn. Das Atmen, meine ich. Aber es soll besser werden, meinten die Ärzte. Nun mit der neuen Lunge soll es endlich Hoffnung für ihn geben.

Ich lehne meinen Kopf an seinen, betrachte die Libellen, die über der Wasseroberfläche fliegen. „Vielleicht werde ich ja nun doch noch Leichtathlet bei den Olympischen Spielen", sagt Tae leise.
Ich schmunzle, er tut es ebenfalls.

Dort ist eine Sache, über die wir bisher jedoch nicht gesprochen haben. Ich hebe meinen Kopf, Tae tut es mir gleich und sieht mich an. Seine Hand legt er auf meine. „Erik hätte mehr als fünf Jahre Gefängnis verdient", sage ich. Meine Augen ruhen auf seinen. Das Urteil kam erst letzte Woche. Wäre er jünger als 19 gewesen, als der Prozess begann, wäre seine Strafe auch gemäß des Jugenstrafgesetzes deutlich milder verfallen.
„Es ist genug", sagt Tae.
„Nein."
„Er ist Querschnittsgelähmt, Jungkook." Tae lässt seinen Blick zum Teich schweifen. „Das ist Strafe genug. Er wird nie wieder das tun können, was er mir antat. Er wird nie wieder Lacrosse spielen können. Alle, die er kannte, verachten ihn nun. Ich weiß nicht, ob sein Leben überhaupt noch lebenswert ist." Tae drückt meine Hand. Seine Augen werden feucht. Mit einem Mal ist mir, als fühle Tae sogar ein bisschen Mitleid. Doch liegt das eher an ihm und seiner Sanftmut, als an Erik.

„Glaubst du, dass Erik je etwas für dich empfunden hat?", frage ich.
„Ich weiß es nicht. Er bekam zumindest keine Strafmilderung wegen einer psychischen Störung. Erik war aber schon immer ein Meister der Manipulation."
Diese Antwort muss mir wohl genügen.

Ich verschließe meine Finger mit seinen und Tae sieht mich wieder an. „Waren deine Eltern bisher hier?", frage ich.
„Meine Mutter. Erst vor zwei Tagen. Unsere Beziehung ist immer noch gut. Sie kann nichts für Erik." Dennoch lebte Tae für drei Monate bei mir zuhause, nach dem Autounfall von Erik und bevor die Carterfields beschlossen ihm jeden Monat Geld zu schicken, mit dem Tae sich eine schöne aber kleine Wohnung in der Innenstadt nahm. Er will nicht mehr zu dem Haus neben dem Waldstück, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte. Nie wieder die Glastür sehen, zu der er im Gerichtssaal aussagte, sie sei bereits in seinen Albträumen aufgetaucht. Erik schwieg nur. Vom Anfang bis zum Ende des Gerichtsverfahrens sagte er nichts. Mein Video war Beweis genug, seine eigenen Aussagen in ihm zu verheerend und die Wunden an Taes Körper nicht verdeckbar. Es zog sich dennoch alles hin, wie es das eben tut. Und Tae fand keine Ruhe. Die letzten zwei Jahre waren belastend für ihn, dabei wünsche man sich, sobald Opfer von Missbrauch hervortreten, ihr Leben eine Wende zu etwas einfacherem nehme.

„Das ist schön", sage ich.
„In deiner Welt ist alles schön." Tae lächelt leicht. Ich erwidere es erneut.
Ich fahre mit meinem Daumen über seinen. „Wenn du dich wieder besser fühlst, können wir zusammen in den Urlaub fahren", sage ich.
„Wir können dann auch wieder miteinander schlafen."
Ich lache leicht auf und lehne meine Stirn an seine. „Das auch."

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mit Tae intime Zeit zu verbringen, nicht nur einfach für mich war. Und für ihn. Es ist schwer zu sehen, wie er sich manchmal wegen seiner Lunge verkrampfte, bevor er operiert wurde. Wie vorsichtig alles sein muss, damit er sich sicher fühlt. Aber ich bin dazu bereit, ihm das zu geben. Tae hat gerichtlich auch Psychotherapie verordnet bekommen. Er war erst fünfmal dort und hat mir bisher nur einmal sehr oberflächlich davon berichtet, worüber er dort so spricht. Dass er das Gefühl hat, zurzeit für das erste Mal wirklich zu leben, als wäre er davor nur eine in Trance-versetzte Puppe gewesen. Für mich fühlt es sich auch so an. Wie schon gesagt: Tae ist glücklicher.

Tae bewegt seinen Kopf vor und küsst mich. Nur ein Mal, dann liegt sein Kopf wieder auf meiner Schulter. „Ich liebe dich, Jungkook", sagt er sanft. Mein Herz trägt noch immer Hitze in sich, wenn er das tut.

„Hey Jungkook! So solltest du deine Pause aber nicht verbringen!" Ich blicke hinauf und dorthin, woher die Stimme kam. Es ist Seungmin, der von einem oberen Stockwerk des Rehagebäudes durch ein offenes Fenster hinunterruft. Er hatte eine Fuß-Op, weshalb er nun hier ist. Es sollte schnell wieder verheilen, sodass er zurück nach Vancouver kann, wo er nun in einem Profi-Team Lacrosse spielt. Eriks Absenz im Team hat ihn dahin gebracht, da nun die Talent-Scouts sein Können sahen. Ich gönne es ihm. Wahrscheinlich mehr, als allen anderen. Immerhin war er auch für Tae da, in der vergangenen Zeit. Sie telefonierten gelegentlich.

Ich schmunzle nur und lehne meinen Kopf an Taes. Mit einem Mal ist mein Kopf leer und ich bin sorglos glücklich. So glücklich. Und es wäre nicht ohne die Hitze so gekommen, die die Dezemberkälte vor zwei Jahren so fern sein scheinen ließ.

„Ich liebe dich auch, Tae."

Hitze | VkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt