43

164 19 8
                                    

📍Jungkook

Frau Carterfield steht im Flur und mustert mich. „Mit niemandem, Entschuldigen Sie."

Sie scheint die Entschuldigung gar nicht wirklich aufzufassen, sondern setzt sich einfach nur auf den zweiten Stuhl neben mich. Ein Seufzen verlässt ihren Mund, tief und bedrückend. Wenn es mir schon schlecht geht, muss es bei ihr noch viel schlimmer sein. Sie ist immerhin seine Mutter und ich nur die Person, die es vermasselt hat.

Die noch immer verwirrt ist. Ich dachte mein Besuch in der Sporthalle hätte mich wieder klar sehen lassen. Doch als ich neben Taehyung saß, schien mir alles verschwommen zu sein.

Woher sie nur kommt? „Von der Arbeit", erzählt sie mir. Sie musste sich noch abmelden, für die nächsten Tage. Mir wird erst jetzt wirklich klar, wie anstrengend es ist, ein krankes Kind zu haben. Nicht, dass ich Taehyung als Last betrachte.

„Du bist bestimmt wegen Taehyung hier, oder?"
„Sonst würde ich nicht hier sitzen."
„Ich dachte nur, vielleicht ist noch jemand anderes hier, den du kennst oder du arbeitest hier, so nebenbei." Sie wirkt zerstreut, was ihr nicht ähnlich sieht. Genauso wenig wie ihr fahles Gesicht. Auch es zeichnet tiefe Augenringe. Ich würde sagen, es ist etwas genetisches, aber ich weiß es schließlich besser.

„Ich wusste gar nicht, dass ihr beiden so gute Freunde seid", sagt sie. Ja, das wusste ich auch nicht. Dass es mich noch um diese Uhrzeit durch die halbe Stadt für einen Jungen treiben könnte, bei dem ich mir nichtmal sicher bin, ob es zwischen uns funktioniert, er mir jedoch die Welt bedeutet.

Ich erwidere nichts, sondern frage stattdessen etwas anderes: „Warum ist seine Krankheit so schnell schlimmer geworden?"

Sie setzt sich auf und lässt ihren Blick durch den Krankenhausflur schweifen. Jemand tritt aus Taehyungs Zimmer, doch begibt sich gleich weiter, bevor einer von uns etwas fragen kann.

„Ganz ehrlich: ich weiß genauso wenig wie du, Jungkook", sagt sie mit gesenkter Stimme, als ich dem Arzt noch hinterhersehe. „Manchmal ist es gut, dann treten plötzlich Beschwerden auf und halten Monate an. Ich weiß es wirklich nicht. Es ist wohl einfach so, aber das ist schwer zu akzeptieren, ich weiß."

Einfach so. Wenn es einen Gott im Himmel gibt, wie kann jemand dann einfach so, solch etwas ertragen?

„Warst du bei ihm drinnen?", fragt sie.
„Ja. Ich habe auch die Ärzte geholt."
„Er müsste ein wenig benommen gewesen sein. Er bekommt nämlich Beruhigungstabletten, aber das hat er dir bestimmt nicht erzählt. Sowas ist ihm immer unangenehm."

Das hat er wirklich nicht. Damals am Spind kam er auch peinlich berührt zu mir, weil er Angst hatte, er hätte mich bedrängt und musste mich sogar danach fragen, um endlich in Ruhe weiterleben zu können.

Aber-... Beruhigungstabletten? Bekommt man die nicht nur bei Panikattacken? Aber natürlich: die unfreundliche Frau am Tresen hat auch schon sowas ähnliches gesagt. Ich bin immer davon ausgegangen, seine Anfälle würden willkürlich kommen und mehr mit der Lunge als seinem Geist zutun haben.

„Wann ist es passiert?", frage ich. „Er muss ja irgendwie-... zusammengebrochen sein."
„Direkt als er von eurer Fahrt nachhause kam. So panisch habe ich ihn auch noch nie erlebt. Aber ich weiß auch nicht wie es ist, wenn einem von einen auf den anderen Moment die Luft zum Atmen fehlt."

Ihre letzte Aussage bedrückt mich so sehr, dass ich nichts mehr sage. Ihr scheint es ähnlich zu gehen.

Ich hole mein Handy also hervor. Meine Mutter schreibt eine lange Nachricht, die ich nur eilig überfliege. Im letzten Satz gibt sie mir ihr okay, aber ich solle trotzdem bald fahren; sie mache sich sonst Sorgen.

Ich sehe wieder Lungenemphysem bei Google und fühle mich dazu verleitet mehr zu lesen. Sagt man nicht, indem man Dinge rationalisiert nimmt man sich die Angst? Ich habe keine Ahnung, doch folge dieser Devise nun.

Was kann man gegen ein Lungenemphysem tun?
Google spuckt gleich mehrere Antworten aus. Sauerstofftherapie ist als eine der Maßnahmen für ein sehr fortgeschrittenes Krankheitsbild aufgelistet. In sehr schweren Fällen bleibe einem nur noch eine Lungentransplantation.

Ich weiß nicht, ob es zu unsensibel ist, doch kann mich nicht aufhalten, bevor ich Frau Carterfield danach frage: „Habt ihr schonmal über eine Lungentransplantation nachgedacht?"

Ein wenig überrascht dreht sie sich zu mir. „Natürlich! Aber... das ist komplizierter als du vielleicht denkst. Nicht nur, weil eine Spenderlunge gefunden werden müsste, die perfekt auf seine Vitalwerte passt, sondern auch, weil es nicht die Lunge an sich ist, aber sein Körper, der sie abbaut. Ich weiß nicht wie viel er dir erzählt hat, aber sein Krankheitsbild ist äußerst selten und erblich. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Körper mit der neuen Lunge nicht genauso fortfährt wie zuvor ist sehr gering."

„Das heißt, man kann gar nichts machen?"
„Es gibt viele Behandlungsmethoden, aber nichts heilt ihn endgültig. Er kann zwar lange leben, aber eben nicht anders als so." So - wie es gerade ist. Manchmal besser, manchmal schlechter, mit regelmäßigen Aufenthalten im Krankenhaus; keiner Vorhersage, wann es ihm scheinbar gut geht, dann doch so plötzlich seine Lunge überfordert ist.

Ich habe es nicht mehr ertragen, verstehst du das? Und das kann ich auch nicht mehr, hat er erst eben zu mir gesagt. Und jetzt ist er bewusstlos, muss künstlich beatmet werden, weil es seine Lunge sonst nicht schafft.

Mit einem Mal steht sie auf. „Komm, ich fahr dich nachhause. Das dauert noch lange, das kann ich dir versichern."

Im Auto blicke ich lange aus der Fensterscheibe. Der Dezember war noch nie so aufregend und gleichzeitig auch noch nie so traurig.

Vor meiner Wohnung mach sie halt, die Adresse habe ich ihr gegeben.

Ich will mich schon verabschieden, da lässt sie noch etwas los. „Ich wünschte Erik würde sich genauso für seinen Bruder interessieren wie du. Manchmal habe ich das Gefühl, ihn kaum zu kennen. Und dann frage ich mich, ob es meine Schuld ist. Ob ich ihn neben Taehyung zu sehr vernachlässigt habe, aber dann denke ich doch wieder, dass es eher von ihm ausgeht. Ach, ich weiß nicht. Das geht dich eigentlich auch nichts an, Entschuldigung. Mach es gut, Jungkook."

Für einen Moment verharre ich in meinem Sitz. Ihre Worte klingen noch lange in mir nach, doch gerade kann ich nur wenig mit ihnen anfangen. Erik hat gerade keine Priorität.

„Wann kann ich wiederkommen? Ins Krankenhaus meine ich?", frage ich noch abschließend.

„Morgen, wenn du willst."

Hitze | VkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt