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📍Jungkook

5 Tage bis zur Wende.

Die Male, wie dünne rote Linien, die sich um seinen Hals schlingen.

Ich habe noch nie so etwas gesehen.

Du-... fährst jetzt nachhause, oder?
I-Ich weiß nicht. Nein.

Erik darf nicht von uns Erfahren, Jungkook.

Jungkook.

Ju
       n
                g
                       ko
                                o
                                          k.

Ich öffne meine Augen und mein Oberkörper schnellt hoch. Ich sitze in meinem dunklen Zimmer auf meinem Bett. Es ist Nacht. Genau. Es war nur ein böser Traum. Ein Traum. Nichts weiter. Und doch quälen mich die Stimmen nun auch im wachen Zustand.

Jungkook, höre ich Tae rufen.
Was willst du aber von mir?

Es hat keinen Zweck sich wieder hinzulegen. Ich stehe auf, schlurfe zu meinem Zimmerfenster und mache es auf. Die Nacht lächelt mich an und empfängt mich mit einem kalten Windhauch. Mitte Januar. So vieles hat sich im vergangenen Monat verändert.

Jungkook.
Warum siehst du es nicht?

Was soll ich denn sehen?

Ich lege meine Hand auf die Unterseite des hölzernen Fensterrahmens und blicke zu den Sternen, als ich meinen Arm nach unten ziehen will und meine Hand über das Holz vom Rahmen schleift. Mein Zeigefinger tut weh. Ich wende ihn vor meine Augen. Ein Splitter.
Mein müder Schritt trägt mich in die Küche. Das Licht knipse ich an und suche nach einer Nadel, die mir hilft den Splitter herauszupuhlen. Mein Puls wird rascher. Ich bin gestresster davon, als ich es sein sollte. Da bemerke ich jemandem im Türrahmen.

„Jungkook? Ist alles okay, Schatz?", fragt meine Mutter. Ihre zierliche Figur verhüllt ihr Morgenmantel und sie verschränkt ihre Arme vor sich. In ihrem Blick ruht jedoch ehrliche Sorge.
„Ich—" Zwischen meinem Wühlen sehe ich flüchtig zu ihr auf. „Ich habe einen Splitter, im Finger", sage ich. Jungkook. Jungkook. Jungkook!
„Die Nadel liegt im Bad, Jungkook—" Die Schublade mache ich wuchtig zu, sodass es laut durch unsere Wohnung hallt.
„Tut mir Leid", sage ich gleich und atme zitternd aus. Meine Mutter tritt vorsichtig auf mich zu, legt ihre Hände an meine Oberarme und schiebt mich sanft zu dem Küchenstuhl.
„Setz dich erstmal. Ich hole die Nadel."

Meine Mutter tapst davon. Warum schlägt mein Herz so schnell?

Jungkook! Du weißt es bereits. Du weißt es schon viel zu lange. Du traust dich nur nicht, es auszusprechen.

Seine Male, die aussehen, als hätte ihn jemand gewürgt. Die beiden Erklärungen von ihm dazu:
1. Behandlung.
2. „Mir gefällt das." Das Würgen. Es war auch das, was Erik zu mir meinte.

Du weißt, dass nichts davon stimmt, Jungkook.
Ja, ich weiß. Und ich vermutete es bereits.
Das sagte ich dir gerade.
Ich weiß.

Zu fest gegriffen. Das Zerren in die Küche. Das Messer. Nur der Kuss passt nicht hinein; von Eriks Seite aus nicht. Tae wollte sich nur schützen. Vor ihm.

„Ich habe die Nadel." Die Stimme meiner Mutter reißt mich aus meinem Gedankenrausch. Von meinen Händen sehe ich zu ihr auf. Mein Atem rinnt zittrig durch mich. „Mama?", flüstere ich, mich nicht dazu bringend lauter zu sprechen. Meine Brust bebt. „I-Ich glaube... Ich glaube... Tae wird vergewaltigt." Ich breche in Tränen aus. Für so lange, waren die Anzeichen da und doch wollte ich es nicht wahrhaben. Wollte nicht glauben, dass Erik es wäre. Wollte nicht glauben, dass Tae sowas passiert. Meinem Tae.

Meine Mutter kommt eilig zu mir und hockt sich vor mich. „Was lässt dich das denken?", fragt sie und legt ihre Hand wohlwollend auf mein Knie.
„Er hat— Er hat blaue Flecken... und Male— und..." Ich bringe mich nicht dazu weiterzusprechen. „Es ist nicht fair", schluchze ich nur noch.

Meine Mutter zieht einen Stuhl an meine Seite und legt ihre Arme um mich. „Weißt du, wer es ist?", fragt sie ruhig.
Ich schniefe. „Sein großer B-Bruder. Es ist Erik. Und er war mein Freund!" Ich sehe sie an und wiederhole meine letzten Worte laut und durchdringend, zwischen Tränen verwirrt hervorgebracht.
„Jungkook." Sie tätschelt mir auf den Rücken. „Beruhige dich und lass mich den Splitter aus deinem Finger ziehen. Sonst entzündet er sich."
„O-Okay."

Meine Mutter sitzt nun vor mir. Ich versuche so gerade wie möglich zu sitzen, doch ist es nur ein qualvoller Versuch einer Unmöglichkeit. Ich war noch nie so emotional vor meiner Mutter. Es ist ungewohnt, wie ruhig sie bleibt. Nimmt sie mich überhaupt ernst?
Mit der Nadelspitze pikst mir meine Mutter in den Finger. Es tut weh. Ihre Augen sind auf ihre Arbeit fixiert. „Du musst etwas machen um diesen Jungen zu retten. Er wird nicht von allein davon erzählen und ganz sicher nicht auf Nachfragen antworten, wenn du es von allein rausfinden musstest", sagt sie, so gefasst wie ich sie noch nie erlebt habe.
„Aber Mama—"
„Kein aber Mama." Meine Mutter sieht auf und drückt mir mit ihrem Zeigefinger mehrfach in die Brust. „Du bist ein starker junger Mann mit einem großen Herzen. Wenn ich könnte, würde ich es kleiner machen", sagt sie. „Und jetzt musst du stark sein, Jungkook. Dort ist kein anderer Weg."

„Ich kann es nicht."
„Doch, du kannst. Du warst es schon immer. Als du mit Lacrosse aufgehört hast, zum Beispiel."
Ich senke meinen Blick und nicke schwach. Erik. Wie habe ich nicht früher durch dich gesehen? Wie komisch er auf meine Nachfragen reagierte? Es stieß mir gestern schon sauer auf, doch das Erbrechen des Ganzen (ich meine die Realisation) kam erst heute.

„Mit mir als Mutter kannst du nur stark sein."
Ich sehe zu meiner Mutter auf, in ihr sanftes Lächeln. Ich erwidere es schwächer. Sie legt ihre Hand an meine Wange.
„Ich fühle mich nicht stark", sage ich und lege meine auf sie. „Wenn ich stark wäre, hätte ich mich schon früher getraut, durch das alles zu sehen und hätte nicht in der sicheren Unwissenheit verharrt."
Ihre Augenbrauen ziehen sich schwach zusammen. „Du bist so viel stärker, als du es denkst. Als dein Vater gegangen ist, hast du nie geweint", sagt sie.
„Weil ich wusste, wie schrecklich er zu dir war, Mama."
Ihre Augen werden glasig. Ich ziehe meine Mutter in eine lange überfällige Umarmung und fühle ein Wohlwollen mich überkommen. „Taehyung hat nur dich", flüstert sie mir ins Ohr.

...

Gestern Nacht verbrachte ich noch Stunden damit, mit meiner Mutter im Internet nach möglichen Strafverfolgungsprozessen wegen Vergewaltigung zu suchen, die dem Fall von Taehyung ähneln. Es läuft alles darauf hinaus, dass Beweise die wichtigste und fatalste Rolle spielen. Beweise. Etwas, wo ich nicht herankomme. Und ich will Tae nicht in mein Wissen einweihen, weil ich fürchte, dass es ihn von mir zieht. Deshalb lächele ich nur, als wir uns am nächsten Schultag sehen und tue meine Müdigkeit mit einer Handbewegung ab, als würde ich nach einer Fliege schlagen.

Gemeinsam bewegen wir uns zum Schulgebäude. Es ist Morgen. Die Vögel zwitschern um uns herum. Es könnte friedlich sein, dein Leben, Tae.

„Am Freitagabend habe ich sturmfrei", sagt Tae sanft. Seine Augen bleiben auf meinen, länger, als sie es müssten. „Du könntest—" Sein Zeigefinger greift sich meinen. „—rüberkommen, und..."
Wir sehen uns noch immer an. Wir halten an. Er löst seinen Finger von meinem.

„Wenn du willst", sagt er noch. Und ich weiß, was er meint. Wonach er mich fragt. Und ich reflektiere für mich innerhalb von Sekunden, ob seit Silvester bereits genug Zeit vergangen ist, um es zuzulassen. Diesen Drang in mir. Ein anderer Teil von mir fragt sich, ob Tae das braucht, nach all dem, was Erik mit ihm gemacht haben muss. Ob das der Grund war, weshalb er mich an Silvester danach fragte. Ein klitzekleiner fühlt den Druck, es so sicher wie möglich für ihn zu gestalten.

„Komm doch lieber zu mir", sage ich.

Hitze | VkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt