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📍Taehyung

Jungkook bleibt noch eine Weile hinter mir stehen. Komisch.

Komisch denke ich auch, als er so gelassen neben mir von der Busstation zur Schule schlendert. Den Blick verträumt umherwerfend, die Hände schüchtern in den Jackentaschen vergraben, ist er irgendwie ein ganz anderer Jungkook, als ich ihn sonst kenne.

Nach dem Eingang verabschieden wir uns voneinander, weil wir in andere Richtungen müssen. Die ersten Schritte geht er rückwärts und trägt ein sachtes Lächeln auf seinen Lippen, das auch nicht schwindet, als er verlegen den Kopf auf den Boden richtet und sich schließlich umdreht.

Ich erwidere es nur und bleibe einen Moment stehen. Irgendwann sehe ich ihn nicht mehr. Ich spüre wie mein Herz schnell schlägt. Ein ungewohntes Gefühl.

„Taehyung", zischt eine mir bekannte Stimme in mein Ohr und reißt mich aus meinem Gedankenstrom. Mein Herz schlägt mit einem Mal noch viel schneller. Ich drehe mich um, die Griffe meines Rucksacks fest in den Händen, zittere ich am ganzen Leib.

Erik starrt mich wutdurchdrungen an, redet aber bewusst leise. „Wo warst du letzte Nacht?"
„Das geht dich gar nichts an", erwidere ich.

Er sieht sich im Flur um. Niemand da, scheiße.

Wuchtig packt er meinen Ärmel und zieht mich hinter sich her. „Hör auf Erik!", wimmere ich. Ich versuche seine Hand von mir zu lösen, doch schaffe es nicht.

Er geht lange weiter. Über das gesamte Erdgeschoss ganz nach hinten zu den Toiletten im Altgebäude, dort wo niemand sonst hingeht. Hinter sich knallt er die Tür zu und lässt mich endlich los. Ich tapse zurück, bis ich mit meinem Rücken an die kalte Wand stoße. Er kommt auf mich zu. „Du kannst nicht einfach wegbleiben!", appelliert er.
„Warum nicht?", schreie ich plötzlich. Ich will gar nicht so laut sein, aber meine Wut braucht ein Hinterrad.

„Weil sich unsere Eltern Sorgen machen! Sie haben gestern angerufen und wegen dir musste ich mir irgendeine scheiß Ausrede einfallen lassen, damit ich erklären konnte, dass sie dich gerade nicht sprechen können. Du bist so eine verdammte Last!"

Ich sage nichts, weil mein Verstand mir sagt, dass er doch Recht hat. Weil meine Müdigkeit, die sich über all die letzten Jahre immer weiter ansammelte, das verhindert. Es bringt doch eh nichts. Ihm zu sagen, dass er überreagiert. Dass mir auf der Stelle 1000 Sachen einfallen, die er doch hätte sagen können.

Das mit der Last trifft mich jedoch. Eine Last, das bin ich tatsächlich.

„Hör mal, Taehyung", bringt er auf einmal hervor. Er tritt langsam zu mir, einen Schritt nach dem anderen. „Nur weil du in meiner Familie bist, heißt das noch lange nicht, dass du jeden scheiß machen und alles mögliche jedem erzählen kannst."

Er tritt bis vor mich heran.

Ein Schatten, der nichts fühlt und sieht, denke ich. Das bin ich.

Im nächsten Moment packt er kräftig meine Schulter, sodass sich seine Fingerkuppen in meinen Pulli bohren und es an meiner Haut schmerzt. „Wenn du also jemals jemanden etwas sagen solltest, finde ich dich und mache dir das Leben zur Hölle."

„Das tust du doch eh schon", wispere ich.

Innerhalb von Sekunden nimmt er ein Kabel meiner Nasensonde zwischen die Finger und zieht leicht daran. Ein widerwärtiger Schmerz durchfährt meinen Kopf. Sofort schießen mir Tränen in die Augen. „Willst du mich etwa absichtlich Reizen?" Ein fürchterliches Grinsen zeichnet sich auf sein Gesicht. Es macht ihm Spaß, mich zu quälen. Er sieht gerne dabei zu, wie ich Leide, ergötzt sich sogar daran. Deswegen lässt er es auch an mir aus, ich, der ihm unterlegen ist und sich immer nur zwei Zimmertüren von ihm entfernt befindet.

Damit es niemand mitbekommt, außer mir. Deine hässlichen Abgründe sehe nur ich.

„Nein", keuche ich. „Nein, Erik-... lass-... los."
Er lässt den Kunststoff los. Heftig ringe ich nach Luft, die mir die Panik abschnürte.

In einer gelegnen Situation winde ich mich an ihm vorbei und verschwinde aus der Toilette. Aus irgendeinem Grund will ich weinen, aber ich weiß nicht weshalb.

Am Liebsten würde ich weglaufen, irgendwohin, wo mich nichts an das hier erinnert. Aber ich kann nicht. Schon beim Laufen scheitert es bei mir. Blöde Krankheit, blöde Kabel, blöder-...

„Hast du die Seiten für Englisch gelesen?"

Ich wende meinen Kopf zu der Stimme. Marie, sie lächelt mich an. Mit ihrer Hand fährt sie durch ihre schwarzen glatten Haare.
Was für eine Überraschung.

„Ja, habe ich", antworte ich zögerlich.
„Fandest du die auch so schwer zu verstehen? Ich finde altertümliche Sprache ja immer blöd." Das Lächeln weicht nicht von ihren Lippen, als würden ihre Mundwinkel auf ganz natürliche Weise stets nach oben zeigen.
„Nein, eigentlich nicht."
„Dann bin das wohl nur ich." Sie lacht kurz, wendet sich ab und geht ein paar Schritte.

„Haben wir jetzt nicht zusammen Unterricht?", fragt sie und sieht zu mir über ihre Schulter.
„Ja." Ich hole sie ein und gehe neben ihr her.

Komisch, noch eine Sache, die komisch ist. Heute ist irgendwie alles komisch.

...

In der Mittagspause begegne ich Seungmin im Flur. Wir reden eine Weile, über sein Lacrossetraining und Schule. Ich bin müde, will ihm dennoch zuhören. Mein bestätigendes Nicken ist immer zaghafter und ich habe das Gefühl, dass mir meine Augen zufallen.

Müde vom Leben.

Zur Verabschiedung lächle ich ihm nur zu. Er bemerkt gar nicht, dass es unecht ist, keine Basis hat, sich auf nichts beruhen kann. Wie viel man vor Leuten verschleiern kann, denke ich. Vielleicht werde ich ja niemals gesehen.

Hitze | VkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt