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📍Taehyung

Der 24. Dezember war noch nie so deprimierend. Meine Familie sitzt zusammen am Esstisch, der reichlich mit Essen gefüllt ist, doch durch meine verstärkten Medikamente habe ich noch weniger hunger als noch vor wenigen Tagen. Bevor ich einen Rückfall hatte, ja genau.

Der überschwängliche Frohsinn dieser Jahreszeit ist mir noch nie bekommen, aber dieses Jahr fühlt sich jede weitere Christbaumkugel und Lichterkette wie ein weiteres Mal an, in dem mich die Welt anschreit: Sei doch glücklich! Du hast doch alles was du brauchst! Somit fühle ich mich nur elendiger und schlechter, desto mehr mir klar wird, dass das nicht stimmt.

Als wir am Esstisch unsere Hände nehmen und meine Mutter damit anfängt auszusprechen, wofür sie das vergangene Jahr dankbar ist, zieht es mich nur tiefer in diesen Gedankenstrudel hinein.

Wofür ich dankbar bin?
„Wofür bist du dankbar, Taehyung?"

„I-Ich-..." Für einen Moment wird es still. Erwartend sieht mich meine Familie an, doch mir fällt keine kleine Sache ein, die in mir zumindest nur den Hauch von Glück und Dankbarkeit auslöst. Innerlich beginne ich zu beben. Keine. Kleine. Sache. Warum bin ich nur immer so traurig?

„Dass du wieder zuhause bist, oder?", fragt meine Mutter.
Zustimmend nicke ich. „Ja, danke." Ein wenig Erleichterung erfüllt mich. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Doch in den vergangenen Tagen fiel mir alles so schwer. Gehen, Treppensteigen, Essen, Schlafen, Leben. So ist es doch immer nach deinen Krankenhausaufenthalten, oder nicht? Und dann wird es immer besser, hat meine Mutter gesagt. Besser, aber nie gut.

Meine Mutter zieht mich nach dem Essen zur Seite. Das Haus ist nur so von gelben wohligen Lichtern erleuchtet, die mit dem Kontrast zur Dunkelheit draußen den weihnachtlichen Flair vermitteln, nach dem sich heute so viele sehnen.

„Ist alles Gut?", fragt sie.
„Ja", tue ich es ab. „Kein Grund zur Sorge."
„Hast du Probleme mit der Lunge?"
„Nein." Ich will es dabei belassen, mich aus ihrer Hand, die sanft meinen Arm greift, lösen, doch kann meine Lippen nicht zügeln. „Kann nicht einfach alles wieder normal sein?" Das war es doch nie. Seitdem du diagnostiziert wurdest, war es das nie. Seitdem deine Mutter gestorben ist, war es das nie. Nirgendwo kannst du normal sein, nicht mit deiner Nasensonde, deiner dürren Erscheinung und den Flecken an Hals und Körper.

Normalität ist mir ein Fremdwort, dabei wünschte ich, dass ich es vereinnahmen könnte. Dass niemand so normal wäre, wie ich.

„Schatz, das ist es doch. Wir sind froh, dass du da bist und wir lieben dich, so wie du bist." Ihre Worte berühren mich und ich muss Schmunzeln, aus Nettigkeit heraus. „Oder ist es wegen dem, was der Arzt gesagt hat?"
„Nein." Doch. „Aber, ist bis heute kein Brief gekommen?", frage ich.
„Nein, tut mir Leid."

Der Brief, der mir über die Vitalwerte eines möglichen Lungenspenders Bescheid gibt. Ja, ich bekomme vielleicht eine Lungentransplantation. Aber ich erlaube mir noch nicht diesen Gedanken zu verinnerlichen. Außerdem habe ich scheußliche Angst davor.

Erik unterbricht uns. „Gehen wir noch zum Park? Das machen wir doch jedes Jahr."
„Natürlich, Schatz."

Wir ziehen also unsere Schuhe an und begeben uns nach draußen. Es ist schon spät, als wir im Stadtpark ankommen. Die kleine Alee gehen wir entlang. Dunkle Bäume reihen sich an unseren Seiten. Ich verstecke meine Hände in den Manteltaschen. Die kalte Luft friert die Haut in meinem Gesicht und so wie ich einen Fuß vor den nächsten setze, erkenne ich, dass dieser Moment etwas schönes beinhaltet. Die Ruhe, die Stille.

Ich gehe vor meinen Eltern und Erik, die sich paar Meter hinter mir verhaken und reden. Meine Mutter oder mein Vater würden mich bestimmt dazu holen, doch merken sie vielleicht besser als ich, dass ich gerade gerne alleine bin. Ja, das bin ich.

Rauch erscheint bei jedem Atemzug vor mir in der Luft. Er ist klein und schwach. Ich höre Geräusche von hinten und drehe mich um. Auf einmal stehen dort Jungkook und seine Mutter und unterhalten sich mit meinen Eltern. Die Spazierroute ist immerhin nicht gerade unbekannt für Heiligabend.

Ich stehe so da, bis Jungkook sich umsieht und mich erblickt. Ein Lachen ziert mit einem Mal sein Gesicht. Er setzt zum winken an, unterbricht es und geht dann doch lieber auf mich zu. Sein Schritt ist eilig, fast laufend, voller Erwartung. Als er bei mir steht, scheint aber alles normal.

„Hey! Frohen Heiligabend, oder was man da sagt."
Ich betrachte seine Augen, die direkt in meine blicken. Bei der fehlenden Sonne sind sie noch tiefbrauner, als ich sie in Erinnerung habe.
„Danke. Dir auch."
„Dir... geht es wieder besser." Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Frage oder Aussage ist, denn er sagt es verunsichert. Ich finde keine andere Antwort darauf als: „Ja."

Ich setze langsam zum Gehen an, er folgt mir. Seine Hände hüllen Handschuhe. Große Hände, die mich einst berührten. Nun sollten sie mir egal sein; ich sollte sie nichtmal bemerken. Es sind schließlich nur Hände, Taehyung. Aber sie fallen mir auf. Weil die Handschuhe neu sind; ich habe sie noch nie zuvor gesehen.

„Seit wann bist du genau wieder zuhause?", fragt er. Genau - er will eine präzise Antwort. „Paar Tage." Ich gebe sie ihm aber nicht. Sturheit oder die Aufregung wegen meines Arztbriefes? Ich weiß nicht, was es von den beiden ist.
„Musst du für Kontrollen nochmal hin?"
„Paar Mal."

Er beobachtet mich von der Seite, dann seufzt er. „Du kannst ganz schön abweisend sein, weißt du das?" Vor Überraschung will ich fast stehenbleiben, bringe mich dann doch dazu Schritt zu halten. „Ich weiß", sage ich. Und hör auf mich Sachen über meine Lunge zu fragen. Dann kannst du auch mit meinem Arzt reden. Aber das sage ich nicht. Ich bringe es nicht übers Herz, da es zu unfreundlich ist.

„Aber das wusstest du auch mal", füge ich hinzu. Trotzdem meintest du, du würdest dich davon nicht abschrecken lassen. Und wo sind wir jetzt?

„Ich weiß." Ich weiß. Eine Pause entsteht durch sein Einatmen. Sag es nicht, sag es bloß nicht. „Entschuldige."

Ich kann dieses Wort nicht mehr aus seinem Mund hören, da alles seit dieser einen Entschuldigung in der Skihütte den Bach herunter ging. Weil Entschuldigungen nichts bringen. Sie machen das Leben nicht bunter, sondern zeigen mir nur immer wieder aufs Neue auf, das es etwas gibt, wofür man sich entschuldigen muss.

Wie als Jungkooks Mutter ihr Beileid wegen des Todes meiner ausdrückte. Es bringt nichts mehr. Sie ist ja schon weg.

„Du kannst dich nicht immer nur entschuldigen. Irgendwann muss man auch was machen." Er will etwas sagen, da unterbreche ich ihn. „Gesten sprechen mehr als Worte, du hast es mir selbst gesagt."

„Ja, ich weiß, Tae. Ich weiß das." Er zieht sich einen Handschuh aus und reibt sich das Gesicht. „Was willst du denn, das ich mache? Ich will doch nur für dich da sein. Ich will doch nur das."

Nur das. Keine Liebe, aber nur das.

Aber du wolltest es doch selbst nicht. Du hattest selbst Bedenken, Taehyung. Du hattest selbst Angst davor.

„Keine Ahnung."

Hitze | VkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt