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📍Jungkook

Die Klingel läutet zum Schulschluss; drei Schläge, die mich in die Freiheit lassen.

Eigentlich muss ich früh nachhause, denn eigentlich muss ich lernen. Deshalb gehe ich im Schnellschritt über die Flure und durch den Eingang, als ich stehenbleibe: Vor mir ergießen sich gold-gelbe Farben in rosa Pastelltönen und etlichen Nuancen an Orange. Ein wunderschöner Sonnenuntergang.

Mich zieht es hinauf aufs Schuldach. Nein, mich zieht es danach, diesen Moment zu teilen. Ich will ihn teilen, mit dir. Wie auf dem Eis, als wir gelacht haben. Ich will ihn mit dir verbringen. Ich will ein Album kaufen, auf das ich unsere Namen schreibe und endlos viele Seiten füllen.

Was ist nur mit mir los?

‚Dir', oder in diesem grammatikalischem Zusammenhang eher dich, sehe ich gerade den Gang entlanggehen. Außer ihm ist kaum jemand da. „Taehyung!", rufe ich. Erschrocken dreht er sich um. Er ist wirklich schreckhaft. Mit der Hand deute ich, dass er zu mir kommen soll. Zögerlich kehrt er um. Als er bei mir ankommt, sieht er mich fragend an. „Was ist?", bringt er schüchtern hervor.

Ich möchte seine Hand nehmen, um ihn hinter mir her zu ziehen. Doch in der Realität, traue ich mich das nicht. Nicht in der Schule, nicht solange ich nicht weiß, was er von mir hält; nicht ihn. Taehyung ist eben eine kleine Porzellanfigur, die auf dem Boden steht. Und ab und an kriege ich Angst, ich könnte einer der Menschen sein, die ihn unabsichtlich fast zertreten. Wie gestern Morgen, als er verletzt war. Wenn ich mich daran zurückerinnere, schaudert es mir.

„Komm mit, ich muss dir was zeigen", sage ich.
„Was denn?"
„Komm einfach." Ohne seine Antwort abzuwarten, gehe ich einfach los. Nach drei Schritten drehe ich mich zur Versicherung nach hinten, doch so weit komme ich nicht, denn er läuft knapp hinter-neben mir her. Genauso steht er auch neben Erik. Immer knapp hinter und doch neben ihm. Eben hinter-neben.

Ich gehe vor ihm die Treppen hoch aufs Schuldach. Eine alte hölzerne Tür, die wahrscheinlich lange nicht mehr benutzt wurde, führt uns auf die höchste Ebene. Neben mir macht er halt. „Der Sonnenuntergang", bemerkt er und richtet seinen Blick in den Himmel. „Warum zeigst du ihn mir?"

„Einfach so."
„Einfach so?"
„Ja." Ich zucke mit den Schultern, weil ich belanglos wirken will. Von außen sieht es aber nur komisch aus.

„Es gibt viele Künstler, die versuchen den Farbverlauf einzufangen. Aber in echt sieht es immer schöner aus", gibt er auf einmal von sich.
Ich schiele zu ihm, seine Augen hängen weiterhin an der heruntergehenden Sonne. „Das ist überall so. Man stellt sich Dinge vor und will, dass sie perfekt sind. Nichts ragt jedoch an die Realität heran, etwas wirklich zu erleben."

Genauso, wie dich zu küssen in meinen Gedanken niemals so sein wird, wie es jetzt zu tun? In Echtzeit, in der wahren Welt.

„Du bist so still", bemerkt er.
„Ich-... bin nicht still", gebe ich holprig zurück.
Er seufzt, greift das Thema aber nicht mehr auf. Stattdessen sagt er was anderes: „Ich habe es irgendwo gelesen. Ich würde nie von selbst auf so schlaue Dinge kommen."

Ich wende mich zu ihm. Zögerlich sieht er auch mich an und lässt die Sonne am Horizont weiterziehen.

Dir könnte auch sowas einfallen", bestehe ich.
„Ich bin mir da nicht so sicher." Er tut es mit einem dumpfen unangenehmen Lacher ab.
„Ich mir aber."

Tief blickt er mir in die Augen. Als würde es in seinem Kopf ratter ratter machen. Über was denkst du nach? Lass mich teilhaben, an dem, was in dir vorgeht.

Aber er bleibt Still. Still, still, still, still... desto öfter ich das Wort in meinem Verstand wiederhole, desto unvertrauter klingt es. Ebenso tut das chronisch. Wahrscheinlich habe ich das Wort noch nie in meinem Leben ausgesprochen. Dabei bestimmt es sein ganzes, wie ein glühend roter Leitfaden, der omnipräsent sein Leben vermiest.

„Welche Krankheit hast du, Tae?", frage ich drauflos. Meine Stimme ist standhaft und fest. Neben ihm habe ich das Gefühl immer so zu wirken. Weiß er, dass ich mich manchmal überhaupt nicht standhaft und fest fühle? Dass ich manchmal meinen eigenen Emotionen unterlegen bin, vielleicht wie gerade? Dass ich zu rasch, zu hektisch handle? Wie als du bei mir saßt, am Esstisch. Es tut mir Leid. Vielleicht werde ich dir nicht gerecht. Vielleicht brauchst du gerade jemanden, der nicht nachhakt, der die Dinge einfach so lässt wie sie sind, dem Fluss des Lebens vertraut. Hingegen will ich alles stramm in meinen Händen halten, alle Fäden zu einem Bündel knoten, sodass sie sich in exakt gleichem geometrischen Abstand zueinander aufspannen. Weniger Weltverbesserer, eher nie ankommender Perfektionist.

Vielleicht sind unsere Unterschiede zu groß für dich. Ein unüberwindbares kaltes Meer. Vielleicht können wir es nie überqueren.

Aber ich spreche es nicht aus, weil ich nicht weiß, wie du darauf reagieren würdest. Obwohl es mir auf der Zunge brennt, wie heißes Öl.

Er senkt seine Augen herab. Mit der Fußspitze kickt er einen großen Kieselstein beiseite. „Ich-... Ich habe eine Lungenkrankheit, aber das wusstest du bestimmt schon." Er atmet mit dem Mund ein, als bräuchte er mehr Luft, wenn er darüber redet. Als bereite es ihm Angst. „Ich habe eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung, erblich."

Erblich, wie von seiner Mutter. Von seiner gebürtigen Mutter. Er fügt es in einem Laut hinzu, beiläufig, eventuell hoffend, dass ich es überhöre. Aber ich höre dich.

„Ich rede nicht gerne darüber, das habe ich schonmal gesagt", fügt er hinzu.
„Tut mir Lei-..."
„A-Aber", unterbricht er mich - „ich-... ich fühle mich dir so nah, Jungkook, ich weiß nicht wieso." Am Ende klingt er verzweifelt, fast flehend, nach einer Antwort suchend, eben nicht wissend, wieso. Als könne ich sie ihm geben. Aber das kann ich nicht.

„Deswegen will ich dir wahrscheinlich auch sagen, dass chronisch bedeutet, d-dass es nicht besser wird. E-Es wird n-nie besser werden, niemals. V-Verstehst du das?"

Er atmet erneut tief aus. Als würde er sich denken, wenn ich schon angefangen habe, muss ich es ihm immerhin plausibel machen, versucht er sich zu fassen und redet weiter: „M-Meine-... ähh-.. meine Proteasen zerstören mein Lungengewebe." Er spricht ruhiger als zuvor, dennoch ist er aufgebracht. Nicht wütend, aber zerwühlt. „Man kann nichts d-dagegen machen a-außer meine Lunge aus-... auszu-..." Zitternd atmet er ein.

Er kann nicht weitersprechen. Nicht, dass er körperlich nicht dazu in der Lage wäre, es ist schließlich nicht sein Sprechvermögen, das unter seiner Krankheit leidet. Er schafft es emotional nicht. Denn es ist als würde ihn ein Schauer gewaltiger Trauer überkommen.

Seine Fingerkuppen bohrt er wieder in seine Oberarme, wie damals im Hinterhof. Eine Angewohnheit, denke ich.

Hitze | VkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt