Liam P.o.V.
Tag 3, Eintrag 1:
Es ist vier Uhr Nachmittags, die Temperatur steigt mit jeder Minute an, draußen tummeln sich Scharen von Soldaten. Männer, Kinder, sogar Frauen wuseln irgendwo auf dem großen Gebiet herum. Und ich sitze hier, schreibe diesen Tagebucheintrag und denke über nichts nach, während in dieser Stunde vermutlich noch hundert weitere Soldaten gefangen genommen werden. Warum bin ich nochmal hier? Ach ja, genau. Wir haben den Krieg verloren, was ungefähr so viel bedeutet wie: Du hast nicht gut genug gekämpft und darfst jetzt für dein restliches Leben in den Knast. Tja, so sieht meine momentane Lage aus.Ich schaue immer mal wieder nach draußen in die Freiheit, aber eigentlich kann ich es nicht Freiheit nennen. Das Fenster ist vergittert, weswegen man nur einen kleinen Teil einer Wiese sehen kann, und außerdem stehen dort hunderte von Soldaten mit Waffen, die Augen immer aufmerksam auf die Ausgänge gerichtet, damit ja keiner entkommt. Oft habe ich schon beobachtet, wie manche versucht haben zu flüchten, aber dann kamen die Maschinengewehre und beendeten ihr Leben wie das eines schlachtungsreifen Schweines. Ich streite nicht ab, nie an Flucht gedacht zu haben, aber wenn ich das sehe, bleibe ich wirklich lieber hier drin und das bis zum Ende meines Lebens, als dort draußen wie ein wetloses Stück Scheiße entsorgt zu werden.
Meine Zelle ist klein, vielleicht sechs Quadratmeter groß, sodass unter normalen Umständen ein Mann hineingepasst hätte. Aber außer mir wohnt noch jemand hier, Josh heißt er. Er ist wirklich nett, obwohl wir uns noch nicht so richtig unterhalten konnten, aber ich glaube, ich habe mich in ihn verliebt. Es ist komisch, wie oft meine Gedanken von ihm handeln und nicht vom Krieg oder meiner Familie. Eigentlich denkt man ja an sowas, wenn man Kriegsgefangener ist; also an den Krieg und die Familie. Doch es tut weh, darüber nachzudenken, und so lasse ich es lieber sein.
Heute hat mich Josh gefragt, ob ich einen Freund habe. Nein, antwortete ich, nein, habe ich nicht. Und du? Er sah mich an, lächelte wehmütig, und sagte: Irgendwo auf dieser Welt bestimmt, aber noch habe ich ihn nicht gefunden. Ich lächelte, sah in seine Augen und stellte mir vor, wie er mit seinem Freund durch die Lande ziehen würde, wie er Dinge erlebte, die er gerne machen wollte. Das denke ich immer. Komisch, nicht? Aber naja, ich kann nichts dagegen machen, und deshalb versuche ich es auch gar nicht. Denn was soll es bringen? Die Gedanken werden immer da sein, ob sie traurig oder fröhlich sind, ist belanglos, wenn man in einer kalten, kahlen Zelle sitzt und nichts mit der Zeit anzufangen weiß.
Das werde ich auch jetzt wieder tun. Nachdenken, mich langweilen, vielleicht ein bisschen mit Josh reden, aus dem vergitterten Fenster starren und ein wenig in meinem Tagebuch schreiben. Man kann es eigentlich auch schon Buch nennen, immerhin schreibe ich nicht jeden Tag einen einzelnen Eintrag auf, sondern mehrere, weil die Langeweile mich dazu zwingt. Ich persönlich fände es gar nicht so schlimm hier, wenn es wärmer und sauberer wäre und Bücher zum Lesen vorhanden wären. Aber es ist wie mit den Gedanken: man kann nichts dagegen machen, und deshalb lasse ich es lieber.
Tag 3, Eintrag 2:
Ich schätze, dass es jetzt sieben Uhr ist. Also habe ich vor drei Stunden den letzten Eintrag geschrieben, was mich wundert, da mir diese Stunden wie eine vorgekommen sind. Josh und ich haben uns prächtig unterhalten, wenn auch über traurige und emotionale Themen, aber ih freue mich, etwas von meinem Zimmergenossen zu lernen. Vielleicht ist es einfach das Interesse, das unweigerlich mit der Neugierde verbunden ist; oder das ständige Gefühl, ihn kennen lernen zu wollen. Während unserer Unterhaltung habe ich an Liebe gedacht. Was ist Liebe überhaupt? Ist es das Gefühl zweier Menschen, die sich nicht verlieren wollen, oder doch nur eine reine Illusion der "Liebe", wie man sie aus Büchern kennt; mit einem Kribbeln im Körper, Schmetterlingen im Bauch und dem ständigen Schwärmen? Man kann viele Dinge erzählen, sie können entweder stimmen oder nicht. Aber aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich: achtzig Prozent der Dinge, die jemand erzählt, ist reiner Mist, und die restlichen zwanzig Prozent mögen umstritten sein, aber nicht kompletter Schrott. Mutter sagte mir einmal, meine Tante wäre in Amerika; ein Jahr später fand ich heraus, dass sie schon seit vier Jahren verstorben war. Was man daraus lernt? Man soll nicht jedem, der einem über den Weg läuft und irgendwas von Freundschaft und der Schönheit des Lebens gaukelt, Vertrauen schenken, denn Vertrauen ist wertvoll. Wenn man jemandem vertraut und derjenige es dann missbraucht, tut das sehr, sehr weh. Aber ich denke schon wieder zu viel nach.Mir ist langweilig. Mit dem bisschen Papier, das ich in meinem "Tagebuch" habe, können Josh und ich maximal Tic Tac Toe oder Käsekästchen spielen; ein Spiel, das ich als Kind sehr oft gespielt habe. Wir haben es immer zu viert oder fünft gespielt, und dabei immer gelacht oder frustriert aufgeschrien, je nachdem, ob man ein Kästchen bekommen oder verloren hat. Ich erinnere mich auch daran, wie dann die Älteren zu uns gekommen waren und unser Spiel kaputt machten, weil sie es kindisch fanden und sich am besten von allen fühlten. Es war ein scheiß Gefühl, und ich würde diese Idioten jetzt am Liebsten umbringen. Potenzial hätte ich heute dazu. Eigentlich eine nette Vorstellung: Ich, Liam James Payne, Soldat bei der Army, besuche unsere Kindsfeinde, sage ihnen meine Meinung und haue ihnen einmal richtig auf den Deckel, dass sie sich zweimal überlegen, welche Kinder sie dumm anmachen und welche nicht. Das wäre sehr ... befriedigend. Nicht, dass ich rachesüchtig wäre oder sowas. Aber die Vorstellung ist angenehm, und was soll ich sonst tun außer denken, mich langweilen, mit Josh reden, einen Eintrag schreiben oder mir etwas vorzustellen? Genau, nichts.
Tag 3, Eintrag 3:
Meine Zeiteinschätzung: zwölf Uhr nachts. Wieso ich jetzt noch schreibe? Keine Ahnung. Josh schläft, und ich beobachte ihn dabei. Er sieht so süß aus, wie er auf der harten Pritsche liegt, ab und zu etwas im Schlaf murmelt und sich hin- und herwälzt, als fühle er sich unwohl. Irgendwie ist er wie ein kleines Kind, und dieses Gefühl erweckt in mir einen Beschützerinstinkt. Muss ich das verstehen? Ich glaube nicht.Tag 4, Eintrag 1:
In der Nacht habe ich nur sieben Stunden geschlafen; musste immer wieder an früher denken. Zwischendurch haben uns ein paar Soldaten besucht und nachgeschaut, ob wir noch da oder einfach vom Erdboden verschluckt waren. Aber wir waren immer da, und so zogen sie gleich wieder ab. Man bekomt erstaunlich viel mit, wenn man den ganzen Tag nichts zu tun hat, und so stellt man die merkwürdigsten Theorien auf. Ein Mann hat geschrien, ein Soldat brüllte zurück und dann war es wieder still. Es stellt sich die Frage: was ist mit dem Mann passiert? Wurde er umgebracht, bewusstlos geschlagen oder weggeschleift? Was war der Grund für seinen Ausraster? Vielleicht die Verzweiflung der Gefangenschaft, oder die Sehnsucht nach seiner Familie? Ich wusste es nicht. Und weiß es auch jetzt nicht. Es dürfte mir egal sein, ist es aber nicht. Gott, ich verstehe mich selbst nicht mehr.Tag 4, Eintrag 2:
Es gibt Neuigkeiten, sehr große Neuigkeiten. Die Zeit ist mir gerade relativ egal, denn es gibt Wichtigeres. Und zwar: Josh hat mich geküsst! Ich war überrascht, habe den Kuss aber natürlich erwidert; das wollte ich ja die ganze Zeit. Das Gefühl war wunderbar. So frei, leicht und wunderschön. Als würde ich auf Wolke Sieben schweben. Wenn ich jetzt anfange, über den Kuss zu schreiben, höre ich nie wieder auf; also lasse ich es lieber. Ich brauche den wenigen Platz in diesem Tagebuch noch. Wir sind jetzt auch zusammen, was heißt, dass ich einen Freund habe und er auch. Aber dass er mein Erster ist, habe ich ihm nicht erzählt. Noch nicht. Doch das ist nicht die einzige Neuigkeit, die passiert ist. Denn: wir können heute raus! Raus aus diesem kalten, engen Loch, in dem wir verrecken sollten wie nervige Ratten während einer Rattenplage. Wir müssen nur noch zwei Stunden warten, und dann heißt es: ab in die Freiheit! Und ich freue mich darauf. Denn die Friheit stelle ich mir folgendermaßen vor: Josh und ich, wie wir ein eigenes Haus und einen Garten haben, und lachend, uns an den Händen haltend, über eine Wiese rannten; so, wie ich es mir bei Josb vorgestellt hatte.[Ist für Finchen0123]
