17.

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Leider ein sehr kurzes Kapitel :/

Annemarie

Ein Bild, das ich zwar erwartete, mich dennoch schockierte wurde mir geboten, in dem Harry mit freiem Oberkörper auf einer Liege lag, die Augen geschlossen hielt, sein Gesicht gegen die Zeltdecke richtete. Man erkannte noch viele Blutreste auf seiner Haut, vieles wurde bereits abgewaschen, aber es war noch genug zu sehen. Die Wunde, wegen der er schrie, konnte ich nicht erkennen, denn eine Decke lag über seiner Hüfte.

Liam, der auf einem Hocker neben dem Holzbett saß, sah mich überrascht an, während Harry gar nicht reagierte, als würde er schlafen. „Annemarie", sagte Liam leise und richtete sich etwas mehr auf. „Was tust du hier?"

Ich nahm an, dass Harry schlief, da Liam flüsterte, deswegen tat ich das Gleiche, derweil ich einen kleinen mutigen Schritt in das Zelt trat. „I-Ich weiß nicht", meinte ich unsicher. „Ich wollte ... Ich weiß es nicht." Mir fiel auf, wie bescheuert es von mir war, einfach in eines dieser Zelte zu treten, ohne zu wissen, ob sie es überhaupt wollten, deswegen drehte ich mich sofort wieder weg. „Es tut mir leid, ich werde wieder gehen."

Liam stand ruckartig auf, musste sich aber etwas ducken, da das Zelt zu klein für seine volle Körpergröße auf. „Warte. Du kannst bleiben."

Ich hielt inne, traute mich aber noch nicht, mich wieder zu ihm zu drehen. Sollte ich wirklich bleiben? Was würde Sergeant Pattons davon halten, wenn er mich hier sehen würde? Würde er Liam dafür bestrafen, weil er so nett zu mir war?

„Setz dich, Annemarie", bot Liam mir an, worauf ich ihn schüchtern ansah. Ich brauchte bei ihm nicht unsicher sein. Er war einfach ein liebevoller Mensch. Wie er mir so sanft zulächelte und auf den kleinen Hocker deutete, es ernst meinte und keine Hintergedanken dabei hatte.

Deswegen nickte ich langsam und machte leise Schritte auf ihn zu, setzte mich vorsichtig auf den Hocker, der neben Harrys Liege stand, ungefähr einen halben Meter von ihm entfernt.

Ich war mir sicher, dass er schlief. Seine nackte Brust bewegte sich regelmäßig und sachte auf und ab. Außerdem fiel mir auf, dass er stark schwitzte, da seine Haut glänzte. Die Schweißperlen lagen ihm quasi noch auf der Stirn, befeuchteten gleichzeitig seine dunklen Haare, die durcheinander auf seinem Kopf lagen.

Nur vage bekam ich mit, wie Liam sich einen weiteren Hocker nahm und sich neben mich gesellte, weil ich Harry genau betrachtete.

Ich ließ meine Augen über seine bedeckten, langen Beine wandern, dann über seinen Bauch, der stark muskulös war, ein paar angetrocknete Blutreste hatte. Seine Brust, die geformt war wie keine weitere Brust, die ich je bei einem Mann sah. Gemischt mit seinen breiten Armen und Schultern, sah er aus wie die pure Stärke.

Und mit den kleinen und ab und zu größeren Narben auf seinem Körper wirkte er wie ein Kämpfer. Wie jemand, der sich meinetwegen große Schmerzen zuzog, weil ich in die Fluten sprang.

Ich war mir nicht sicher, ob ich behaupten konnte, dass er der schönste Mann war, den ich je traf. Ich hatte Angst davor.

Er war ein amerikanischer Soldat.

„Wie geht es dir?", unterbrach Liam meine Gedanken und als ich hörte, dass er eine Wasserflasche öffnete, sah ich zu ihm. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine Hände voll mit Blut waren. Es schockierte mich, weswegen ich perplex zusah, wie er sich mit dem Wasser die Hände wusch. „Hat sich Stuart um mich dich und deine Schwester gekümmert?", fragte Liam weiter und entfernte weiter das Blut von seinen Händen.

Wie erstarrt nickte ich und hauchte: „Ja. Ja, es ist alles okay." War das alles Harrys Blut?

„Das ist gut." Liam stellte die Flasche weg, rieb sich die letzten Reste von den Händen und trocknete sie an seiner braunen Hose. Er stützte sich auf seine Knie und erst jetzt bemerkte er, dass ich ihn die ganze Zeit beobachtete, weswegen sein Ausdruck sanfter wurde. „Ist ... wirklich alles okay?"

Einfach aus Reflex wollte ich wieder nicken, doch wem wollte ich etwas vormachen? Nichts war okay. Annel und ich waren verschleppt worden, ich brachte mich bereits in Lebensgefahr und dazu noch viele andere. Ein Mann starb meinetwegen. Und Harry wurde verletzt. Deshalb schüttelte ich unglücklich den Kopf und wand mich wieder an Harry. „Nein", antwortete ich flüsternd. „Es ist nicht alles okay."

Daraufhin schwieg Liam eine Weile.

Die Kerze, die das Zelt beleuchtete, machte ruhige Geräusche, brachte einen orangenen Ton in Harrys Gesicht, zeigte seinen kantigen Konturen und den Schatten seines Bartes.

Wie sollte ich so weitermachen? Es schien bereits alles verloren. Machte es noch Sinn überhaupt etwas zu versuchen? Behielt Harry Recht mit seiner Aussage, in der er meinte, dass es besser für Annel und mich gewesen wäre, wenn wir uns erschießen lassen hätten?

„Ich weiß, wie du dich fühlst", sagte Liam nach einer kurzen Stillepause. Auch er sah zu Harry, der weiterhin schlief. Er wirkte extrem nachdenklich, viel ernster als sonst. „Du denkst, du wirst das hier nicht packen."

Ich sagte nichts darauf. Er hatte Recht.

„Wir kommen zwar aus komplett verschiedenen Welten und sind verschiedene Menschen, aber ..." – er stoppte kurz – „Wir, Harry, Niall und ich, haben schon etliche Male gedacht, wir würden es nicht packen."

Ich sah zu ihm, genau in seine blauen Augen, die so traurig und bedrückt wirkten, wie ich sie selten sah.

Liam wischte sich durch das Gesicht, stützte es in seiner Hand. „Wir saßen oft abends in unseren Zelten, manchmal hatten wir nicht einmal Zelt, sondern sind beinahe erfroren und ... Wir haben uns schon Lebe Wohl gesagt. Es schien verdammt aussichtslos für jeden von uns, wir waren uns täglich sicher, dass nun das Ende gekommen war. Aber weißt du, Annemarie ..." Er sah mich an. „Wir leben noch. Ich bete und ich bete, damit wir weiterleben können. Ich bete auch für dich."

Seine letzten Worte berührten mich enorm, sie brachten mich beinahe zum Weinen.

„Tu mir einen Gefallen und gib das hier nicht auf." Liam sah wieder zu Harry. „Aufgeben ist in dieser Welt das Schlimmste, das du tun kannst. Harry wäre heute nicht hier, hätte er schon vor Jahren aufgegeben. Und er wird jetzt auch nicht aufgeben. Das hier bricht ihn nicht."

Ich sah auf meinen Finger, die ich miteinander verhakte. „Er müsste nicht hier liegen, wenn ich nicht ..."

„Wenn du nicht mutig gewesen wärst", vollendete Liam meinen Satz. „Bitte verschenk diese Gabe nicht zu schnell."

Unsere Blicke trafen sich.

„Okay?", fragte Liam nach, als ich nichts darauf erwiderte.

Ich presste die Lippen aufeinander, wusste nicht genau, was nun die richtige Antwort sein würde, ohne zu lügen. Doch trotzdem sagte ich leise: „Okay."

Er schmunzelte und stand auf. „Ich werde nach draußen gehen. Bleib nicht zu lange hier, Harry braucht seine Ruhe und wer weiß, wie lange er die noch haben kann."

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt