122.

7K 877 479
                                    

Annemarie Dorner

Es gab genau zwei Dinge, die mich an Regen störten. Erstens, dass die Tropfen meine Haare kraus aussehen ließen und zweitens, dass ich keinen Regenschirm bei mir trug.

Ich hätte wenigstens flache Schuhe anziehen können, wenn ich schon mein hellgrünes Kleid durchnässte. Mit diesem Wetter hatte ich einfach nicht gerechnet, deswegen war ich wohl oder übel gezwungen, meine Handtasche als Schutz zu benutzen und mich so schnell wie möglich unter das Vordach des Restaurants in der Stadt zu stellen.

Als ich dort ankam, betrachtete ich mich im Fensterglas. Es war hoffnungslos, ich war vollkommen nass. Meine Haare klebten mir in der Stirn, als hätte man sie mit Öl bestrichen. Tante Elisa würde mir den Hals umdrehen, würde sie sehen, wie ich mit dem Kleid umging, das wir erst vor kurzem kauften. Danach würde sie über meine verschmierte Schminke lachen, die schwarze Punkte unter und über meinen Augen verursachte.

„Miss!", ertönte eine Stimme hinter mir und ich drehte mich zu dem Jungen, der auf mich zugejoggt kam. Er trug nur eine Baskenmütze auf dem Kopf, weswegen er genauso nass war wie ich. Schwer atmend stellte er sich zu mir unter das Vordach und hielt mir ein Klemmbrett entgegen. „Unterschreiben Sie meine Petition, um Kindern, die ihren Vater durch den Krieg verloren haben, neue Tagesstätten zu errichten?"

Ich musste über sein Engagement schmunzeln und nahm ihm direkt den Füller ab, den er mir reichte. Doch als ich gerade meine Unterschrift auf die Liste setzen wollte, runzelte ich die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Papier noch brauchbar ist."

Der Junge krauste die Stirn ebenfalls und betrachtete das feuchte Papier und die vielen Unterschriften, die dadurch kaum noch lesbar waren. „Oh, verdammt", fluchte er verärgert. „So viele Unterschriften wie heute habe ich in den letzten Wochen nicht ergattern können. Der Bürgermeister wird mir nie glauben, wenn er das hier sieht."

„Das tut mir wirklich leid für dich." Ich gab ihm den Füller zurück. „Aber ich bin mir sicher, morgen wirst du genauso viele Leute finden, die unterschreiben."

Ein tiefes Seufzen verließ seine Lippen und er drehte sich in Richtung der Stadt. „Wenn Sie nur wüssten, wie schwer es ist, Unterschriften für einen guten Zweck zu sammeln. Manche benehmen sich, als würden Sie mir ihre Seele überschreiben, wenn sie ihren Namen auf die Liste setzen."

Etwas lachte ich. Er war ein sympathischer junger Kerl. Nicht älter als siebzehn. Und ein wenig erinnerte er mich an Keith. „Dann musst du sie so lange nerven, bis sie gar keine andere Wahl mehr haben außer zu unterschreiben."

Frustriert schüttelte er den Kopf. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch irgendwann verprügelt werde, ist zu hoch. Aber was soll's, morgen ist ein neuer Tag." Er hielt sich das Klemmbrett über den Kopf und ging zurück in den Regen. „Übrigens", sagte er noch, bevor er ging. „Willkommen in North Carolina!"

Ich blinzelte, als er davonjoggte und machte einen Schritt nach vorne. „Woher weißt du ..." Doch dann war er schon fort.

Nun war ich diejenige, die frustriert seufzte. Ich drehte mich wieder zum Fensterglas und betrachtete wiederholt mein Gesicht. Ich sah noch immer fürchterlich aus und genauso fühlte ich mich. Hätte – gerade heute – nicht die Sonne scheinen können? Das Wetter kratzte an meiner Laune und half mir nicht dabei, mich von der Nervosität, die mich seit Tagen plagte, zu lösen. Es machte es nur unerträglicher.

Ich beschloss, mich in das Restaurant zu setzen, um das Ende des Regens abzuwarten. Ein warmer Tee und eine Kleinigkeit zu essen würde meine Stimmung wieder heben, dessen war ich mir sicher. Wenn mir auch die Blicke der Gäste nicht gefielen, die mich merkwürdig betrachteten, weil ich eine nasse Spur in dem Restaurant hinterließ, als ich mich an einen Tisch setzte.

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt