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        Leute. Es tut mir leid.

Annemarie Dorner, 4 Jahre später

Ich starrte auf einen Mann, der mir trostlos in die Augen sah. Ich kannte diese Augen, kannte diesen leeren Blick darin. Wenn der Mensch, der das Bild dieses Mannes hier in diesem bunten Raum aufhängte, diesen Ausdruck genauso gekannt hätte, hätte er es nie an die Wand genagelt.

Es war das Bild eines überlebenden deutschen Soldaten. Der Inhaber dieser Schneiderei muss mächtig stolz auf seinen Sohn gewesen sein, wenn er seine toten Augen seinen Kunden präsentieren wollte.

Er hatte ja keine Ahnung, wie krank und erschöpft Augen wie diese doch wirklich wirken konnten.

„Was sagen Sie zu dieser Farbe?"

Blinzelt fand ich wieder in das Hier und Jetzt und blickte auf das hellgrüne Kleid, das mir Frau Koch, die Schneiderin entgegenhielt. Sie betrachtete mich fragwürdig, als wüsste sie, dass sie mich gerade aus tiefen Gedanken gejagt hätte.

Ich richtete mich gerade auf und setzte ein sanftes Lächeln auf. „Das ist eine tolle Wahl. Ich denke, es wird ihr gefallen."

Frau Koch atmete erleichtert aus. „Sehr schön. Ich werde es Ihnen noch hübsch einpacken, wenn es Ihnen recht ist."

Ich nickte und erhob mich von dem weißen Sessel, auf dem ich eine Stunde verbrachte, um Annel das perfekte Kleid für ihren sechzehnten Geburtstag zu kaufen. Sie hatte mir schon vor Wochen gesagt, wie gerne sie ein Kleid hätte, das nicht so aussieht wie der anderen jungen Mädchen, wenn sie demnächst ihren Schulabschluss feiern würde.

Als ich der Schneiderin hundertfünzig Deutsche Mark überreichte, fiel mein Blick noch ein letztes Mal auf das Bild des Soldaten. Mit den Jahren wurden immer mehr Bilder von Männern wie ihm in Läden aufgehängt. Eltern, Geschwister, Großeltern oder Tanten und Onkeln waren stolz auf ihre starken Kämpfer. Sie wollten jedem zeigen, dass ihr Sohn stark genug war, um im Krieg zu überleben.

Bilder von gefallenen Soldaten hingen nie dort. Diese waren verschlossen in Schubladen. Eine Schande. Die, die es nicht geschafft haben, haben es verdient, gesehen und gefeiert zu werden. Erst recht diese.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen 8. Mai, Frau Dorner", lächelte mir Frau Koch entgegen, als ich meine Geldbörse wieder einpackte und mir das Geschenk nahm.

Ich öffnete die Tür des Ladens und hob ebenso meine Mundwinkel, egal wie schwer es mir fiel. „Wünsche ich Ihnen auch." Dann machte ich mich auf den Weg nach Hause.

Mich traf es jedes Jahr wie ein Schlag, wenn der 8. Mai war. Mir erschien es schon immer falsch, einen Tag zu preisen, an dem zwar dieser Krieg endete, aber trotzdem noch tausende Menschen ihr Leben lassen mussten.

Allein wegen der Tatsache, dass Harry diesen Tag nicht einmal miterleben durfte, sondern drei Tage vorher verstarb, ließ mich diesen Tag hassen.

In der Stadt war viel los. Erwachsene Frauen und Männer liefen durch die Läden und kauften Geschenke für ihre Liebsten. An diesem Tag schenkten sie sich meistens Blumen und Schokolade. Ab und zu spielte sogar ein kleines Orchester vor dem Musikgeschäft. Eigentlich schienen die Menschen auf irgendeine Art und Weise glücklicher an diesem Tag zu sein. Sie vergaßen total, dass das Ende des Krieges noch lange nicht das Ende war.

Denn noch immer liefen Soldaten durch die Straßen, noch immer gab es Deutsche, die versuchten so zu sein wie Hitler es wollte. Es gab viele Tumulte, noch immer wurde auf Menschen geschossen und am 8. Mai waren noch lange nicht letzten Bomben geflogen.

Doch es wurden auch viele Menschen gerettet. Amerikanische Truppen hatten die Konzentrationslager in Deutschland und Polen entdeckt und zerstört. Jahre des Hasses kamen auf uns zu. Politiker wurden ermordet oder ermordeten sich selbst. Geheimnisse, von denen dieses Land keine Ahnung hatte, wurden aufgedeckt. Noch heute, vier Jahre später, wussten wir nicht, ob wir wirklich endlich alles wussten.

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt