Annemarie Dorner
Wir befanden uns in einer merkwürdigen Situation, mit merkwürdigen Gefühlen und merkwürdigen Worten. Wie war es möglich, so viele Dinge sagen zu wollen, aber nichts davon aussprechen zu können? Fühlte es sich so an, wenn man sich vor vielen Jahren mal geliebt hatte und sich wiedertraf?
Harrys beruhigendes Lächeln ließ die Spannung beinahe aus dem Raum verschwinden. Aber nur beinahe. Er lehnte sich in dem Stuhl zurück, seine Schultern entspannten sich. „Du hast kein Gepäck bei dir", bemerkte er. „Bist du in einem Hotel untergekommen, zu dem du heute Nacht wieder gehen wirst?"
Ich schüttelte seufzend mit dem Kopf und trank einen frustrierten Schluck von dem Tee. „Mir ist ein Missgeschick mit meinem Koffer passiert, so stehe ich also ohne da."
„Also wirst du hier bleiben."
Blinzelnd hob ich den Kopf und blickte unmittelbar in seine schönen, grünen Augen. Erst jetzt fiel mir auf, wie müde und erschöpft er eigentlich aussah. Damals sah er auch so aus, nur wirkte es heute deprimierender auf mich. „Ich weiß nicht", sagte ich unsicher. „Ich möchte dir und deiner Familie nicht zur Last fallen, es ..."
„Du kannst auf dem Sofa schlafen", unterbrach er mich und stand dabei auf. Meinem verwirrten Blick aus dem Weg gehend, lief er aus der Küche hinaus, ins Wohnzimmer und ich hörte, wie er Regale öffnete.
Ich erhob mich und stellte die Tasse hin. Vom Eingangsflur aus beobachtete ich ihn, wie er ein Kissen und zwei dünne Decken aus einem Schrank unterhalb eines Bücherregals hervorzog.
„Normalerweise schlafe ich hier", sagte er, während er beides auf das große Sofa fallen ließ. Noch immer kein Augenkontakt zu mir. „Ich hoffe, das stört dich nicht."
Wieder schüttelte ich den Kopf. „Nein, das stört mich nicht. Wo wirst du schlafen?"
„Ich werde in dem Zimmer meiner Schwester schlafen."
„Oh", machte ich und war überrascht über meine Enttäuschung. Natürlich durfte ich nicht erwarten, dass er bei mir schlafen wollen würde. Und eigentlich widerstrebte es mir ebenso. Wir hatten uns vier Jahre lang nicht gesehen.
Weil Harry nichts mehr sagte, sondern nur dort stand und mich anschaute, als sei ich ein Geist, ging ich auf das Sofa zu. Ich legte die Decke, die noch auf meinen Schultern war, darauf und lächelte. „Das wird wohl die gemütlichste Nacht in den letzten sieben Tagen. Die Betten auf den Schiffen waren schrecklich unbequem."
„Ja", sagte er und erst dachte ich, das sei erneut seine einzige Erwiderung. Aber dann fügte er hinzu, derweil er einen Schritt von mir Abstand nahm. „Kajüten sind sehr gewöhnungsbedürftig."
Ich erinnerte mich daran, dass er um einige Zeit länger auf einem Schiff unterwegs gewesen sein musste. Nur war dies schon eine sehr lange Zeit her.
„Nur gut, dass ich kein Reisebedürftiger bin", versuchte ich zu scherzen und wollte mich dafür ohrfeigen.
Ein kleines, wenn auch gespieltes Schmunzeln entwich ihm. Seine Hände waren hinter seinem Rücken verschränkt. „Zum Glück."
„Ansonsten hätte ich ein ganz schönes Problem." Ich hätte den Mund halten sollen.
„Womöglich."
„Aber ich bin ja nicht Reisbedürftig."
„Nein, offensichtlich nicht." Harry machte ein paar Schritte in Richtung des Treppengeländers und ich ließ mich beschämt auf den Hintern fallen, geradewegs in das bequeme Sofa. „Es ist schon sehr spät", sagte er. „Und du musst eine anstrengende Reise hinter dir haben."
„Ja, wir sollten schlafen", meinte ich leise und sah traurig darüber, wie unser erstes Aufeinandertreffen ablief, in meinen Schoß.
„Sollten wir." Ich spürte deutlich seinen Blick auf mir, dem ich diesmal aus dem Weg ging. Er musste mich für eine Idiotin halten. Aus unendlich vielen Gründen.
Gerade als es mich beunruhigte, dass er noch immer dort stand und mich anschaute, hörte ich ihn sagen: „Es fällt mir schwer zu glauben, dass du gerade hier bist."
Ich hob den Kopf und kreuzte seinen Blick. Wie er dort stand. Mit seinem schönen Gesicht. Mit seinen hohen Wangenknochen und diesen Augen, die mir seit Jahren den Schlaf raubten.
Etwas schob er die Brauen zusammen, er suchte schwer nach den nächsten Worten. „Es ist ... so überwältigend."
Ich lächelte, auch wenn es mir schwer fiel. „Ich hätte mir zumindest gewünscht, dass meine Haare ein wenig gekämmter wären, wenn du mich das erste Mal wiedersiehst."
Harry entwich ein drittes Schmunzeln in dieser Nacht. Diesmal war es ehrlich. Ich erkannte es sofort. Es erreichte seine wunderbaren Augen und ließ mein Herz sofort schneller schlagen. Er schüttelte beinahe amüsiert den Kopf und machte den ersten Schritt auf die Treppe. „Vergiss nicht deinen Tee auszutrinken, bevor du schlafen gehst. Ich wünsche dir eine angenehme Nacht."
Er ging die Treppen nach oben und ich wollte schreien: „NEIN, GOTTVERDAMMT, BLEIB HIER, LASS MICH NICHT ALLEINE, ICH BIN HIER, ALSO BITTE SPRICH MIT MIR, BIS ICH IRGENDWANN KEINEN ATEM MEHR HABE!" Aber alles, was ich sagte, war: „Gute Nacht, Harry."
Kurzes Kapitel, jaaaa, aber heute kommen noch ein paar!
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My Own Liberator
Fanfiction"Wir hätten es fast überstanden. Fast wärst du Mein gewesen, fast hätten wir unser Leben geteilt, fast hätte ich dich festhalten können. Und nun bricht dieses 'Fast' für immer mein Herz." Die Geschichte eines amerikanischen Soldaten, der wäh...