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Annemarie

Schlagartig empfand ich tiefes Mitleid für Liam. „Deine ... Tochter?"

„Ja." Die Art, mit der er das Foto betrachtete hatte etwas Eigenes. Er war zutiefst traurig, das war offensichtlich, doch gleichzeitig entstand auch eine ernste Falte zwischen seinen Brauen, die er jedoch versuchte zurückzuhalten. „Grace ist ... Ich weiß nicht ihren genauen Geburtstag, aber sie müsste jetzt drei sein."

Bei der Vorstellung, dass Liam eine Tochter hatte, die er nicht sehen konnte, brach mir das Herz.

„Wie konnte das passieren?", fragte ich ihn einfühlsam und hoffte gleichzeitig, ich würde ihm nicht zu nahe treten.

„Weißt du, ich bin verlobt", erzählte er, zog das kleine Foto zu sich und betrachtete es ein letztes Mal, bevor er es wieder in seiner Brusttasche verstaute. „Schon ziemlich lange, wenn man es direkt nimmt. Margret, meine Verlobte, war im vierten Monat, als ich gegangen bin. Also konnte ich meine kleine Grace leider nie zu Gesicht bekommen."

„Das tut mir schrecklich Leid für dich, Liam."

Er lächelte etwas. „Das muss es nicht. Immerhin werde ich sie sehen, wenn all das hier ein Ende hat."

Ich musste meinen Blick von ihm abwenden, als er das aussprach. Liam war einer der wenigen, die die Hoffnung noch nicht aufgaben. Er war schon so lange unterwegs und trotzdem redete er von der Zukunft, als wäre sie schon längst geschrieben.

„Manchmal stelle ich mir vor, wie sie lacht", sagte Liam leise, nachdem es eine Weile still war. „Margret hat so ein schönes Lachen und ich bin mir sicher, Grace hat es auch."

Meinen Blick wand ich wieder den Sternen zu, während ich ihm zuhörte.

„Ich wette, sie hat das schönste Lachen der Welt ... So eines, das du hörst und es sofort spürst. Ich ... bin mir so sicher, dass jeder ein Stück glücklicher ist, wenn sie da ist. Und manchmal, da stelle ich mir, wie sie mit ihren kleinen Fingern über meine Wangen streichelt und mich das erste Mal Papa nennt."

Ich schloss die Augen, als klar wurde, dass Liam mit den Tränen kämpfte.

Seine Stimme knackste an, doch er versuchte es zu unterdrücken. „Ich wäre ein Stück glücklicher, wenn ich bei ihr wäre. E-Es wäre so schön, wenn ich ... wenn ich sie in meinen Armen halten könnte und wenn ich sicher gehen könnte, dass sie beschützt ist. Ich würde alles dafür geben, dass sie immer und überall glücklich ist, denn genauso stelle ich mir sie vor. Ungehalten und glücklich. Meine kleine Grace ..."

Tief atmete er ein. Er versuchte sich zu beruhigen.

„Ich bitte Gott jede Nacht darum, auf sie aufzupassen und nicht zuzulassen, dass ihr etwas geschieht", redete er weiter. „Es vergeht keine Sekunde, in der ich nicht an sie denke und sie vermisse. Ich kenne sie nicht, aber ich liebe sie bedingungslos. ... Und irgendwann, ich weiß nicht wann, aber irgendwann werde ich ihr das sagen können."

Liams Worte berührten mich enorm. Er war eine so reine Seele, er war eine der wenigen Menschen, die ich kannte, denen ich alles Glück der Welt wünschte. „Du scheinst dir so sicher zu sein", sagte ich, beobachtete einen Stern, der neu im Himmel auftauchte. „Wieso?"

„Man mag mich für verrückt halten", antwortete Liam und ich drehte meinen Kopf zu ihm, als er eine Kette unter seinem Pullover hervorzog. Ein kleines, glitzerndes Metallkreuz hing daran und er sah darauf. „Aber Gott ist ständig bei mir. Ich glaube daran, dass ich nicht durch Glück die letzten drei Jahre überlebt habe. Er beschützt mich, ich weiß es. Er beschützt jeden von uns."

Ich lehnte meinen Kopf wieder an den Holzbalken. „Ich wünschte, er würde mich auch beschützen."

„Das tut er, Annemarie."

„Nein, das tut er nicht. Sieh, wo ich gelandet bin."

„Das Gleiche hat schon einmal jemand zu mir gesagt."

Etwas wand ich mich wieder an ihn. „Wer?"

Liam blickte ebenfalls in die Sterne, während er seine Hand über sein angewinkeltes Knie legte. „Harry ... Ich habe etliche Male mit ihm solche Gespräche geführt, in denen er dachte, er würde es nicht mehr schaffen."

Seine Antwort überraschte mich. Harry wäre der Letzte gewesen, dem ich zugetraut hätte, irgendwann mal so etwas auszusprechen.

„Wir waren in Afrika", erzählte Liam in Erinnerungen versunken. „Es ist ungefähr ein Jahr her, ich bin mir nicht mehr ganz sicher ... Aber wir saßen nach einem Bombenangriff auf dem Schutt eines kleinen Dorfes. Ein Junge, er war tot, lag vor unseren Füßen, seine Mutter hielt schreiend seine Hand fest. Es war ein grauenvoller Anblick. ... Wir saßen einfach nur dort und haben ihr dabei zugesehen, wie sie verstehen musste, dass ihr Sohn tot war und niemand etwas ausrichten konnte. Harry war nie jemand, der viel über seine Gefühle sprach, aber irgendwann sagte er, dass er all das nicht mehr könnte. Dass es für ihn vorbei wäre. Ich sagte ihm, dass es niemals vorbei ist und wir diesen ganzen Mist überleben werden, solange Gott uns beschützt. Dann sagte er, während er zusah, wie die Mutter ihren verstorbenen Sohn an ihre Brust drückte: Er beschützt uns nicht. Sieh, wo wir gelandet sind.
Genau wie du.
Es war neu für mich, dass er so mit mir sprach, aber ich werde dir jetzt genau das Gleiche sagen, was ich ihm damals gesagt habe."

Liam sah mich an.

„Wir warten immer darauf, dass Gott Wunder vollbringt, die Menschen bestraft, die es verdient haben und den Menschen hilft, die leiden müssen. Aber, und daran glaube ich mit meinem Herzen, wir sollten anfangen die Chance zu ergreifen, die er uns gibt, wenn er uns hier herschickt. Ich glaube nicht daran, dass es Zufall ist, dass ich hier bin und genauso glaube ich nicht daran, dass es Zufall ist, dass ein deutsches Mädchen auf einen amerikanischen Soldaten trifft."

Etwas schmunzelnd steht Liam auf und sieht zu mir herab.

„Gott hat einen Plan, Annemarie. Schutzengel sind nicht immer diese Teile mit Flügeln und Harfe. Manchmal sind sie verwundet und tragen Abschiedsbriefe anderer Männer mit sich herum. Aber manchmal haben sie auch verbundene Hände, doch sehen trotzdem noch in die Sterne, weil sie Trost suchen. Du musst selbst entscheiden, wer du bist und für wen du es bist."

Extreeeeem kurzes Kapitel, aber ich muss leider wieder die Sicht im nächsten Kapitel ändern


My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt