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Annemarie Dorner

Das letzte Mal, als ich in der Nacht, die ich auf Harrys Couch verbrachte, auf die Uhr schaute, die über dem Kamin ging, war es drei Uhr. Ich schlief ... mäßig.

Die Tatsache, dass ich seinen Geruch in dem Kissen und der Decke riechen konnte, dieser mich geradezu umhüllte, machte mich verrückt. Die Tatsache, dass ich in seinem Haus war, er nur ein Zimmer über mir lag und dort lebendig schlief, ließ mich noch den Verstand verlieren.

Ich glaube, in dieser Nacht noch drei Tassen Tee getrunken zu haben, weil ich keinen Schlaf fand. Viermal war ich kurz davor einfach nach oben zu gehen und ihn zu suchen, um ihn zu fragen, ob es das wirklich schon gewesen sein sollte.

So wollte er mich schlafen lassen? Mit dieser enttäuschenden Begrüßung und den vielen Worten, die ich schon auf dem Weg hier her vorbereitet hatte und ihm sagen wollte?

Ich konnte gerade mal eine halbe Stunde mit ihm sprechen und schon machte er mich zu einem Wrack.

Und ließ mir einen unruhigen Schlaf. Genau dieser unruhige Schlaf, der morgens um sieben Uhr schon vorbei war, denn die Sonne kitzelte meine Nase, außerdem hörte ich leise Stimmen.

„Glaubst du, sie wird lange hier bleiben?", flüsterte eine weibliche, angenehme Stimme.

„Sie sieht aus wie ein Engel", sagte jemand anders.

„Ja. Aber was glaubst du?"

„Sie hat viel helleres Haar als Alice."

„Hörst du mir überhaupt zu? George, du ..."

Noch total schlaftrunken und mit einem Schmerz in meinem Nacken hob ich die Lider.

Und blickte unmittelbar in zwei große Augenpaare, die definitiv einem Jungen und einem Mädchen gehörten.

Ich schreckte auf und saß sofort aufrecht, als mir bewusst wurde, dass tatsächlich zwei junge Menschen direkt vor dem Sofa standen und mich anstarrten.

Der Junge trug eine Schuluniform, das Mädchen ein Nachthemd. Beide sprangen synchron einen Schritt zurück, weil sie sich ebenso erschreckten.

„Ich sagte dir, du solltest leiser sein!", zischte das Mädchen dem Jungen zu und schlug ihn leicht auf den Unterarm. „Du hast sie geweckt!"

Die Augen des Jungen lagen noch immer auf mir. „I-Ist sie wach?"

„Natürlich ist sie wach, du Dummbeutel, sieh doch!"

Ich befand mich noch nicht im Hier und Jetzt. Gerade eben hatte ich noch von Zuhause geträumt und schon war ich wieder in North Carolina gelandet, mit dem Wissen, bei Harry zu sein.

„Was tut ihr da?", schimpfte plötzlich eine Frau, die die Treppen heruntergelaufen kam. Sie trug ein Morgenkleid und hatte Lockenwickler im Haar.

So traf ich nun endlich Harrys Mutter. Sie hatte die gleichen Augen wie er.

„Ich sagte euch, ihr sollt sie ruhen lassen!", maßregelte sie die beiden kleinen Menschen und scheuchte sie in die Küche. „Was fällt euch ein?"

In den drei Sekunden, in denen ich mich sammeln konnte und kurz tief durchatmete, warf ich mir die Decke vom Körper und setzte mich gerade hin. Himmel, mein Nacken schmerzte höllisch. Noch dazu wollte ich mich unbedingt umziehen. Ich trug meine Kleider nun schon fast zwei Tage und es fühlte sich widerlich an.

Harrys Mutter kam aus der Küche gelaufen und hatte das breiteste Grinsen, das ich jemals an einem Menschen sah, auf dem Gesicht. Sie wirkte so fröhlich und ausgeglichen, obwohl es noch früh am Morgen war. Ganz anders als ich. „Da hat er dich einfach in deinem Kleid schlafen lassen!", waren ihre ersten Worte an mich. Ihre Stimme war wunderbar sanft. „Ich lege dir natürlich gerne Kleidung von mir heraus, damit du dich waschen kannst."

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt