37.

9.3K 944 245
                                    

Harry

Und dann ging es weiter. Wir liefen eine ganze Weile, das Wetter war grausig, die Wolken grau, der Himmel nicht zu sehen. Über den ganzen Trupp hatte sich eine Stimmung gelegt, die man mittlerweile nur noch selten sah.

Zayns und Davids Tod hatten viele Männer schockiert.

Niemandem schlich mehr als ein leichtes Grinsen über die Lippen, es war eisig still zwischen den Soldaten geworden. Aber das war vollkommen normal. Jeder verarbeitete all diese Vorkommnisse schweigend.

Stunden wie diese, gaben mir oft zu viel Zeit zum Nachdenken.

Ich erinnerte mich an früher. Wie man sich wünschte, jeder, Freunde, Familie, die ganze Welt würde einen vermissen und bittere Tränen weinen, wenn man starb ... Und nun war es eine solch irrelevante Begebenheit. Sterben war genauso vertraulich geworden wie das Atmen. Wir verloren täglich Männer, sahen ihnen beim Ertrinken und Verbluten zu, und zu wenige schockierte es noch. Man ging einfach damit um, lernte damit zu leben und passte sich an. Heute wäre es vergeudete Zeit gewesen, sich zu wünschen, man würde jemandem fehlen, wäre man der Nächste, der starb.

Manchmal fürchtete ich mich vor solchen Gedanken, deswegen ließ ich sie selten zu.

Und um mich abzulenken, kapselte ich mich langsam und unauffällig von dem vorderen Marsch ab und schleuste mich sachte in die hintersten Reihen. Pattons war, zum Glück, immer jemand, der die Nase vorne haben musste.

Als ich Annemarie, Niall, Liam und der kleinen Annel immer näher kam, sah ich, wie Niall mit angewidertem Gesicht mit einem Stock an seiner Schuhsohle rumkratzte und Liam augenrollend stehenblieb, ich aber noch nicht verstand, was er sagte.

Meine dunklen Gedanken von vor ein paar Minuten vergruben sich mehr in meinem Hinterkopf, als ich Annemarie sah, wie sie amüsiert über Niall in sich hineinlächelte. Auch wenn ihre verbundenen Hände fast ihr ganzes Gesamtbild zerstörten.

„Was tust du da?", fragte ich Niall, als ich mich schließlich zu der kleinen Gruppe gesellte. Ich beobachtete mit erhobener Braue, wie Niall auf dem Fleck sprang und versuchte sein Gleichgewicht zu halten. Er wirkte, wie immer, wie ein Schwachkopf.

„Ich bin in einen riesigen Haufen Pferdescheiße getreten", erklärte Niall und holte ein Stück Kot aus seinem Schuhprofil, nur um es dann angewidert in die Höhe zu halten. „Ist das wi-..."

„Ja, es ist widerlich", unterbrach ihn Liam, riss ihm den Stock aus der Hand und warf ihn weit von sich weg. „Du musst nicht noch damit rumspielen, pass lieber auf, dass dir das nicht noch einmal passiert."

Nun verdrehte Niall die Augen und wischte schließlich seinen schmutzigen Schuh am nassen Gras ab. „Ich schwöre bei Gott, Liam, wenn du mich weiterhin behandelst wie ein Kind, dann hol ich diesen Ast zurück und stopfe ihn dir in die Nase, bis es dir aus den Augen wieder herausquilt."

Annemarie und ihre kleine Schwester kicherten, was meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Man spürte, dass sich beide unter Liam und Niall wohl fühlten.

„So etwas findet ihr witzig?", fragte ich die zwei daraufhin. „Nialls Humor?"

„Natürlich finden sie mich witzig", antwortete Niall, anstatt eines von den Mädchen. Er hielt wieder seinen Fuß mit wackelnden Beinen in der Hand und inspizierte seine Sohle. „Zweifle nicht an meinen Witzen, ansonsten kannst du gleich wieder nach vorne zu Pattons abhauen."

Und sofort verschwand das Lächeln von Annemaries und Annels Lippen. Von Annels mehr, als von Annemaries. Ich war mir bereits bewusst, dass das kleine Mädchen mich nicht mochte, weil ich in gutem Kontakt mit dem Sergeant stand. Allerdings konnte ich dafür kein Verständnis aufbringen. Sie war ein Kind, sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete, unter diesen Männern zu leben.

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt