99.

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Harry

Ich war wach, noch bevor Anne es war. Also stand ich auf und begann mich bereit zu machen. Viele Soldaten schliefen noch, Ausnahme waren Keith und Louis, die gerade ihr Zelt zusammenbauten.

Als Keith mich erblickte, lächelte er fast unmerkbar. „Du kannst wohl auch nicht mehr schlafen."

„Ist wohl eine weitverbreitete Krankheit", murmelte ich und suchte Munition für meine Thompson.

Louis reichte mir welche. Er sah alles andere als glücklich aus. „Pattons will in weniger als einer Stunde vorrücken. Was glaubt ihr, wie lange werden wir noch leben?"

Ihm wurden von Keith und mir Blicke zugeworfen, die ihm klar machten, dass es der falsche Zeitpunkt war, um über so etwas zu sprechen. Schon oft hatte ich Scherze über den Tod gemacht, aber an diesem Tag nicht. Denn ich musste begreifen, dass es wirklich passieren konnte. Liam und Niall hatte es erwischt. Ich sollte der nächste sein. Da war nichts, worüber ich noch hätte lachen können.

Und so trat der Rest der Männer zu uns, darunter auch Pattons, Joseph und Walt. Niemand sprach mit irgendwem. Alle luden ihre Waffen, zogen sich an und warteten, bis alle anderen bereit waren.

Der Plan war genau der Gleiche wie am vorherigen Tag. Pattons, Joseph, Walt und Anne würden sich auf die Suche nach Dorner machen, während meine Männer und ich in die Offensive gingen.

Eigentlich wollte ich optimistisch an die Sache herangehen. Aber als ich auf Halle blickte, genauso wie gestern, und mich erinnerte, wer bereits alles gefallen war, verflog mein Optimismus.

Die Deutschen würden uns kalt machen, dachte ich mir. Und jeder hier wusste es.

Ich blickte zu Anne, die bei Pattons stand. Sie schaute mir tief in die Augen und ich schwor mir, selbst wenn ich heute nicht sterben würde, ich mich ewig an das unmenschlich helle blau zu erinnern, was mich schon ab dem ersten Tag in den Bann gezogen hat.

Pattons gab uns keine Chance, uns ein letztes Mal zu sprechen. Ich hätte sie so gerne noch einmal geküsst und ihr so viele Dinge gesagt. Was eine Tortur. Was eine schreckliche Tortur meine Augen von ihr nehmen zu müssen, als wir begannen zu marschieren.

Annel lief genau vor mir, so hatte ich sie ständig im Blick. Zwar hatte ich Pattons gebeten, sie zu sich zu nehmen, denn bei uns war sie nicht sicher, aber es interessierte ihn nicht. Also würde ich dafür sorgen, dass ihr nichts passierte.

„Denkst du, sie werden sich wieder in den Häusern verstecken?", fragte Keith mich von der Seite.

„Nein", antwortete ich und nahm meinen Bick nicht von der noch leeren Stadt. „Wenn sie das tun würden, wären sie ziemlich dumm."

„Du meinst so dumm wie wir, sie anzugreifen, obwohl sie zu hunderten in der Überzahl sind."

„Nicht ganz so dumm."

Wir versteckten uns hinter Autos und Steinbalken vor den Läden. Keith, Louis und Anne waren ganz in meiner Nähe. Die anderen Männer auch nicht weit von uns entfernt, weswegen ich ihre ängstlichen Gesichtsausdrücke erkennen konnte.

Ich hasste in diesem Moment jeden von ihnen. Würden sie nicht so enorm auf Pattons Seite stehen, würden wir uns ganz woanders befinden. Sie hatten es verdient, hier zu sterben.

Also saßen wir hinter diesem Auto und warteten. Ich sah stetig in die Richtung, aus der der deutsche Trupp kommen würde. Ich war bereit, gleichzeitig war ich es nicht.

Bis ich ein Schluchzen vernahm. Mein Kopf drehte sich nach rechts, wo ich Louis sah, der schwer mit den Tränen kämpfte.

„Ich will noch nicht sterben", weinte er und seine Augen waren fast komplett bedeckt von dem zu großen Helm. „Ich bin neunzehn, verdammt. Ich will einfach noch nicht sterben."

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt