109.

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Annemarie Dorner

Am nächsten Morgen saß ich an dem Flügel in unserem Wohnzimmer und spielte eines meiner liebsten Lieder. Hubert saß in seinem dunkelbraunen Bademantel auf dem Sofa und hatte die Augen wie immer geschlossen. Tante Elisa jagte ihn jeden Morgen um sieben aus dem Bett, obwohl er erst spät abends schlafen ging, deswegen war er ein dauerhaft müder Mann. Doch er sagte mir mal, er mochte es, wenn ich am Klavier spielte, deswegen störte es ihn nicht, wenn ich früh morgens hier spielte, während er auf dem Sofa schlief.

Das Lied Somewhere over the rainbow erinnerte mich immer wieder an Harry. Egal wie sehr es doch wehtat an ihn zu denken, hätte ich es täglich spielen können.

„Hast du all die anderen Lieder bereits verlernt?", holte mich mein Vater aus meiner Erinnerung, wie Harry und ich uns küssten und uns in den Armen lagen. Ich stoppte mit dem Stück und er schenkte sich Kaffee ein, der auf dem Tisch stand. „Ich ertrage dieses melancholische Lied nicht mehr."

Ich betrachtete die Tasten statt sein Gesicht. „Somewhere over the rainbow ist ein Lied über Hoffnung. Die Melancholie bildest du dir nur ein."

„Oder du spielst es einfach nicht richtig", korrigierte er mich unfreundlich und nahm einen Schluck. „Ich habe Samuel kontaktiert und ihn gefragt, ob er dich ein zweites Mal fragen wird. Dein Glück, dass er zugestimmt hat."

„Ich hatte nie um ein zweites Mal gebeten."

„Das war auch nicht nötig." Er stellte die Tasse ab und zog seine Krawatte zu. „Ich möchte, dass du mir heute Abend Auskunft darüber gibst, wie ihr beide weiterhin verfahrt. Du solltest mich besser nicht enttäuschen."

Als er das Wohnzimmer verlassen wollte, blickte ich ihm über den Flügel hinterher und spuckte: „Ich hasse dich."

Natürlich blieb er sofort stehen und drehte sich zu mir um. Es war manchmal erschreckend, wie schnell er wütend werden konnte. „Ich versuche dir zu helfen, ein gutes Leben aufzubauen und sagst, du hasst mich?"

Verachtend schüttelte ich den Kopf. Mein Vater verhielt sich oft so, als wüsste er nicht mehr, was er uns damals angetan hat. Ich fragte mich täglich, welche Geschichten er sich in seinem Kopf zusammenbraute, um überhaupt noch nicht im Selbsthass versunken zu sein.

„Ich dachte, wir hätten dieses Thema mit den Jahren unter den Tisch gekehrt, Annemarie."

Ich wollte ihm sagen, dass ein Thema, das niemals richtig behandelt wurde, auch nicht beendet werden kann, doch stattdessen wachte Hubert grunzend auf und streckte sich auf der Couch. Er erhob sich und kratzte sich verschlafen am Kopf. „Du wirst wohl immer der gleiche ahnungslose Offizier bleiben." Er schlurfte an uns vorbei und schenkte sich ebenso Kaffee ein. „Welches Mädchen würde dich nicht hassen, nachdem du ihren Mann getötet hast?"

Ich strengte mich an, nicht sofort in Tränen auszubrechen, deswegen hielt ich den Atem an.

Mein Vater schnaufte zornig auf und ballte die Faust. „Ich war nicht derjenige, der ihn getötet hat, sondern die Bomben der Briten. Und außerdem war er nicht ihr Mann!"

Laut gähnend setzte Hubert die Tasse an und betrachtete ihn über den Rand. „Er hätte den Bomben entkommen können, hättest du ihn nicht erschießen lassen. Wir alle kennen die Geschichte, alter Knabe."

„Nenn mich nicht alter Knabe, Hubert", zischte mein Vater. „Ich möchte kein einziges Wort mehr über diesen Mann hören!"

„Schon verstanden", murrte der schläfrige Mann und ging in Richtung der Treppen. „Der alte Nazi vermiest mir nicht nur das Klavierspiel sondern auch den Morgen. Typisch, wenn man bedenkt, dass er ..." Und dann verschwand seine Stimme, als er im Obergeschoss ankam.

Die dunklen Augen meines Vaters lagen wieder auf mir und er zeigte mit dem Finger auf mich, als er sich seinen Mantel schnappte. „Du wirst Samuel heiraten, ob du willst, oder nicht! Ich bin es leid, dass du dich verhältst wie eine traurige Witwer, denn das bist du nicht!"

Mit einem lauten Knall verließ er das Haus. Alles war still, man hörte nur noch das Ticken der großen Uhr im Wohnzimmer.

Und ich mochte keine Stille, deswegen begann ich wieder zu spielen.

Damals, da hatte ich mal Hoffnung, Harry würde noch leben. Ich hatte immer gehofft, es wäre ihm gelungen, aufzustehen und zu flüchten. Er war solch ein starker Mann, es sollte ihn doch niemals etwas in die Knie zwingen dürfen.

Doch als uns die Nachricht, Halle sei noch am gleichen Tag von britischen Bomben befallen worden, war die Hoffnung genauso schnell fort wie sie kam.

Noch heute trauerte ich darum, dass er nicht einmal ein Grab hatte. Es gab unendlich viele Friedhöfe von geborgenen Leichen, weil sie es verdient hatten, begraben zu werden, aber er ... Er war einer von ihnen.

Es gibt keinen Ort, zu dem ich gehen kann, wenn ich mich ihm nahe fühlen möchte. Es ist, als hätte er nie existiert.

Über die Jahre hatte ich nie das Interesse für all die anderen gefallenen Amerikaner verloren. Es gab Listen mit Namen von denen, die in Schlachten gestorben waren.

Darunter Louis Tomlinson und Liam Payne. Namen von Keith, Niall oder gar Sergeant Pattons hatte ich nie gefunden. Die Listen waren nie sonderlich lang.

Es war prekär, wie die einst größten Feinde die sein könnten, die man am meisten vermisste. Ich vermisste sie wirklich sehr. Annel tat es auch.

Ab und zu hatte ich sogar das Gefühl, ich würde sie in den Gesichtern der Menschen sehen. Ich sah so viele Männer, die hätten Harry sein können und immer, wenn ich dachte, Ja, es kann nur er sein – natürlich war er es nicht.

Er verfolgte mich jahrelang. Und hörte nie damit auf.

Annel betrat das Wohnzimmer und ich schreckte auf, als sie vor dem Flügel zum Stehen kam. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich sofort, dass meine Wangen wohl genässt von den Tränen sein mussten.

„Entschuldige", sagte ich schniefend und wischte mir sofort mit einem Taschentuch über die Wangen. „Ich war in Gedanken."

„Ich habe das Gespräch mit Vater mitbekommen", sagte sie. „Möchtest du darüber sprechen?"

„Nein, ich denke, es gibt nichts, worüber man noch sprechen sollte."

Sie seufzte und ließ kurz die Schultern hängen. Dann jedoch blickte sie über ihre Schulter und wieder zu mir. „Bist du bereit für Tante Elisas Geheimnis?"

„Wie bitte?"

Stolz stellte sie sich neben den Flügel und öffnete ihre Jacke, womit sie mir tatsächlich einen kleinen Tresor präsentierte. „Es war lebensgefährlich, aber es ist mir gelungen, ihn mir zu krallen."


Diese Story macht mich einfach nur noch traurig :D

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt