Kapitel 10

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All I Want For Christmas Is You - Mariah Carey

Meghan Moore, Sonntag, 18. Juli, London Borough of Hounslow

Meine Schwester fiel mir aufgelöst um den Hals. Zum wahrscheinlich hundertsten Mal in den bisherigen zehn Minuten, die wir damit zubrachten, uns zu verabschieden. Zumindest war das der Plan gewesen, bis Diana von einem Heulkrampf nach dem anderen durchgeschüttet wurde. Warum sie plötzlich so dermaßen von ihren Gefühlen überfallen wurde, konnte ich mir nicht erklären. Ich strich ihr lediglich geistesabwesend über den bebenden Rücken, während ich Harvey, der augenverdrehend am metallenen Zaun lehnte, einen hilfesuchenden Blick zuwarf.

Er seufzte leise auf, worauf er sich abstieß und auf uns zuschlenderte. Vorsichtig nahm ich die Hand von Dianas Rücken, und versuchte mich unauffällig aus ihrer Umarmung zu befreien, wobei ich jedoch leider scheiterte. Denn meine Schwester zog mich nur noch fester an sich heran. Ich keuchte schockiert auf. »Diana, ich bekomme keine Luft!«

»Das...ist...« Sie schluchzt. »Nicht...Fair...«

»Was?«, erkundigte Harvey sich gespielt beiläufig, umklammerte sanft ihre Schultern, womit er sie schließlich endlich von mir wegzog. Tief durchatmend blickte ich in Dianas verheultes Gesicht.

Allmählich schien sie sich wieder zu beruhigen. »Du kannst mich doch nicht einfach allein lassen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Einfach so abzuhauen...«

»Ähm, Diana?« Harvey runzelte die Stirn.
»Warst du das ganze Wochenende über high?«

»Nein«, sagte sie wütend. »Aber ich will einfach nicht, dass sie hier bleibt.«

»Wir wissen schon seit drei Monaten, dass sie umzieht.«

»Aber erst jetzt fühlt es sich so real an...«, erwiderte sie kraftlos, fuhr sich durch die voluminösen Haare und seufzte ausgiebig.
»Deine große Schwester wird dich vermissen«, sagte sie schniefend, lächelte diesmal aber dabei.

Na, immerhin.

»Eine letzte Umarmung?«

»Oh, Gott«, stöhnte ich halbherzig, erfüllte ihr aber den Wunsch. »Du weißt doch hoffentlich, dass du dein Limit an Umarmungen für die nächsten dreißig Jahre aufgebraucht hast, oder?«

»Wie viele habe ich denn noch übrig?«, wollte Harvey grinsend wissen, während ich mich von Diana löste, die nun um einiges besser gelaunt zu sein schien. Zum Glück. Doch genauso spontan, wie sich das breite Grinsen auf dem Gesicht meines besten Freundes ausgebreitet hatte, so schnell verschwand es auch wieder. Er starrte auf einen Punkt, der sich hinter mir und meiner Schwester befand, sodass ich mich neugierig umdrehte. Und mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht. Alessia stand in unmittelbarer Nähe, unschlüssig, was die Entscheidung anging, zu uns zu kommen, oder weiterhin stehen zu bleiben.

Ich entschied für sie.

»Alessia, schön, dich zu sehen«, sagte ich überschwänglich, Harveys Gesicht im Blick behaltend, worauf ich die rothaarige Frau heranwinkte. »Komm doch zu uns. Meine Freunde verabschieden sich gerade.«

»Ja.« Sie lächelte zaghaft. »Das, nun, das sehe ich.« Ich kannte Alessia zwar noch nicht lange, aber ich hielt sie für eine selbstsichere, junge Mutter, die sich von nichts aus der Ruhe bringen ließ. Aber Harvey schien diesen offensichtlichen Charakterzug auf irgendeine Weise zum Brökeln bringen. Empfanden die beiden etwas füreinander? Obwohl sie sich höchstens ein, zwei mal über den Weg gelaufen waren?

Diana schien nichts dergleichen aufzufallen. Offen und herzlich, wie sie es nun einmal war, ging sie zügig auf Alessia zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht kennengelernt. Ich bin Meghans Schwester, Diana.« Sie lachte perlend auf. »Also, hallo und tschüs.«

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