1. Embrace the flame

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„Tu es nicht! Nein! Oh Mann..." Katrina seufzte frustriert und blickte kopfschüttelnd auf das Geschehen, welches sich auf dem Bildschirm vor ihr abspielte.

Es war doch jedes Mal das Gleiche. Christine demaskierte das Phantom vor allen Augen und zwang ihn so zu solch drastischen Maßnahmen zu greifen wie die sie in sein unterirdisches Reich zu entführen. Katrina begriff nicht wie die junge Sängerin so grausam zu diesem von maßlosem Leid gezeichneten Mann sein konnte. In diesem einen Moment verriet sie nicht nur alles was sie miteinander verbunden hatte, sondern zerstörte auch seinen letzten Funken Vertrauen in die Menschheit.

Es war so ungerecht! Das hatte er wirklich nicht verdient.

Katrina umklammerte ihr Sofakissen fester, dass sie vor die Brust gepresst hatte, und verfolgte gebannt was sich weiter abspielte. Wie jedes Mal wünschte sie sich verzweifelt, dass Christine sich am Ende anders entscheiden würde, dass sie an der Seite des Phantoms blieb und seine Liebe erwiderte.

Sie hätte es getan. Ohne das geringste Zögern.

Doch natürlich blieb dieser Wunsch eine närrische Träumerei ihrerseits und alles endete wie sonst auch in einer Tragödie.

Katrinas Herz floss über vor Mitleid, als das Phantom der Oper mit gebrochenem Herzen allein in der Dunkelheit zurückblieb. Er hatte alles verloren. Einfach alles.

Wie sehr wünschte sie sich sie könnte ihm in dieser schweren Stunde beistehen, für ihn da sein, ihm Trost spenden. Es war so unfair, dass ihm einfach kein Glück vergönnt zu sein schien. Wenn jemand es verdiente glücklich zu werden, dann er.

Katrina konnte die Tränen nicht mehr länger zurückhalten, als das Phantom nun aus purem Selbsthass sämtliche Spiegel in tausend Scherben zerschlug, weil er den Anblick seines grausig entstellten Gesichts nicht länger ertragen konnte. Sie weinte immer noch bitterlich, als er schließlich durch einen verborgenen Gang hinter einem besonders großen Spiegel trat und für immer verschwand. Laut schniefend griff sie nach den Papiertaschentüchern auf dem Couchtisch und schnäuzte sich die Nase.

Gott wie peinlich wegen einer fiktiven Figur in einem Film zu heulen! Wenn das jemand ihrer Bekannten wüsste, die würden sich ausschütten vor Lachen. Keiner von ihnen würde verstehen, warum Katrina eine heimliche Leidenschaft für das Phantom und seine bewegende Geschichte hegte. Manchmal verstand sie es ja selbst nicht.

Sie war förmlich besessen von dem Mythos, der sich um diese sagenumwobene Figur rankte und wünschte es hätte ihn tatsächlich gegeben so wie Gaston Leroux es in seinem berühmten Roman andeutete. Seit Jahren schon sammelte sie alles, was jemals zu der Geschichte des Phantoms herausgegeben wurde: CDs, Bücher, Filme, Plakate, Zeitungsartikel.

Der Film von Joel Schuhmacher, von dem gerade der Abspann lief, hatte es ihr besonders angetan. Es stellte das Phantom genauso dar, wie sie es sich immer insgeheim ausmalte: als überaus zerrissenen, aber dennoch sinnlichen Mann, der schlicht und ergreifend nach Liebe hungerte. Natürlich war er gewalttätig und jähzornig, das konnte selbst sie sich nicht schön reden. Aufgrund der schrecklichen Erlebnisse in seiner Vergangenheit, die ihm widerfahren waren, war es allerdings kein Wunder, dass er sich so verhielt. Er verbarg seine empfindsame Seele hinter seinem Zorn, genauso wie er sein entstelltes Gesicht hinter einer Maske versteckte.

Katrina seufzte einmal traurig und erhob sich dann. Wehmütig schlenderte sie in die Küche um sich noch einen Tee zu kochen. Während das Wasser im Wasserkocher langsam zu brodeln begann, holte sie einen Becher und einen Beutel ihres Lieblingstees aus dem Schrank. Dabei bemerkte sie aus den Augenwinkeln draußen eine Bewegung.

Sie stellte die Tasse mit dem Beutel darin beiseite und schaute dann neugierig aus dem Fenster. Unten auf der Straße stand ein großer Umzugswagen und mehrere Männer einer Speditionsfirma schleppten Kisten und Möbel ins Haus gegenüber.

Katrina hob erstaunt eine Augenbraue. Schien so, als würde endlich jemand in die große Villa ziehen, die schon seit vielen Jahren leer stand. Wer sich so ein prunkvolles Haus wohl leisten konnte?

Schulterzuckend wandte sie sich schließlich wieder ab und goss das leicht sprudelnde Wasser in ihren Becher. Sie würde ihre neue Nachbarn sicher noch früh genug kennenlernen.

Jetzt war es erst einmal an der Zeit weiter zu arbeiten. So ein Roman schrieb sich schließlich nicht von selbst und ihre kreative Pause war mal wieder viel zu lang gewesen.

Leise die Melodie von „Die Musik der Nacht" vor sich her summend, tänzelte sie in ihr Arbeitszimmer und stellte ihren Tee auf dem Schreibtisch ab. Während der Laptop hoch fuhr, legte sie den Soundtrack zum Film in ihre Stereoanlage und spulte bis zu ihrem Lieblingstitel vor. Wie immer, wenn das Phantom die einschmeichelnden ersten Worte zu singen begann, lief eine wohlige Gänsehaut über ihren Rücken.

Um sich in die richtige Schreibstimmung zu bringen, zündete sie noch ein paar Kerzen an und setzte sich dann vor ihren Laptop. Sie öffnete das Textdokument, welches das Kapitel enthielt, an dem sie gerade arbeitete. Eine Weile ließ sie sich noch von der Musik treiben, ehe sich ihre Finger zu verselbstständigen schienen und förmlich über die Tasten flogen.

Ein kleines Lächeln huschte über ihre Gesichtszüge. So liebte sie es. Nur so ließen sich die Kapitel schreiben, die ihren Lektoren immer in Freudentaumel verfallen ließ.

Seit ihrem 20. Lebensjahr verdiente sie mit ihrem größten Hobby ihr täglich Brot und war sehr froh darüber, dass sie damals mit ihrem ersten Roman „Herr der Schatten" solch einen großen Erfolg gehabt hatte. Das war nunmehr acht Jahre her und seitdem hatte sie drei weitere Bücher beendet und erfolgreich auf den Markt bringen können.

Sie verdiente ganz ordentlich und hatte sich vor drei Jahren dieses kleine Haus in einem der besseren Stadtteile Hamburgs kaufen können. Sie konnte tun und lassen was sie wollte, solange sie nur in der vorgegebenen Frist ihre Manuskripte fertig stellte. Das war das Beste an der Profession der Schriftstellerei. Die freie Zeiteinteilung war einfach Gold wert.

Freunde hatte Katrina nicht viele, sie war schon immer eher der Bücherwurm gewesen und lebte in ihrer eigenen Welt. Doch das störte sie nicht im Geringsten. Sie war gerne allein und zog die Einsamkeit bisweilen dem lauten Treiben der modernen Welt vor. In solchen Phasen brachte sie die besten Texte zustande.

Die Zeit verstrich und als Katrina das nächste Mal zum Fenster blickte, war es draußen bereits dunkel geworden. Sie gähnte einmal unterdrückt und ließ ihren Nacken kreisen um die kleinen Verspannungen zu lösen, die sich beim konzentrierten Arbeiten über mehrere Stunden gebildet hatten. Plötzlich war sie furchtbar erschöpft und konnte nur noch an eines denken: Schlaf.

Sie speicherte ihr Werk für den heutigen Tag ein letztes Mal ab, ehe sie den Laptop wieder herunterfuhr. Müde rieb sie sich über die Augen und blickte auf die bequeme Chaiselongue, auf der sie schon viele Nickerchen gehalten hatte. Was konnte es schaden, wenn sie sich eben für zehn Minuten ausruhte? Die Kerzen konnte sie dann immer noch löschen. Es würde schon nichts passieren.

Mit einem seligen Seufzen ließ Katrina sich zwischen die weichen Kissen sinken und schloss die Augen. Zu den Klängen von „The Point of no return" driftete ihr Geist schließlich hinüber in die Welt der Träume.

Wie sehr sie später bereuen würde die Kerzen vor ihrem Nickerchen nicht gelöscht zu haben, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.


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