Kurz vor Beginn der Aufführung hatte Katrina es endlich geschafft sich einen Platz oberhalb der Bühne zu suchen, von wo aus sie ungestört das Ganze beobachten konnte. Es war wahrlich nicht einfach gewesen unbemerkt an den zahllosen Bühnenarbeitern, allen voran Joseph Buquet, vorbei zu kommen, doch es war ihr irgendwie gelungen. Niemand hatte sie gesehen.
Nun stand sie weit oben in einer der finsteren Ecken, von der sie das Geschehen auf der Bühne recht gut verfolgen konnte, ihre ganz in Schwarz gekleidete Gestalt praktisch mit der um sie herum herrschenden Dunkelheit verschmolzen. Zumindest so lange sie sich dicht an der Wand hielt. Ihr Gesicht lag gut verborgen im Schatten der Kapuze ihres Umhangs. Ein Stückchen tiefer befanden sich die schmalen Stege und Brücken, welche die Bühnenarbeiter nutzen, um die Bühnenbilder zu bewegen und schnell von einer Seite zur anderen zu gelangen. Hin und wieder huschte einer von ihnen vorbei und sie achtete sorgsam darauf nicht versehentlich in dessen Blickfeld zu geraten, denn um besser durch das Gewirr von Seilen und Tauen sehen zu können, musste sie sich leicht vorbeugen und war so für den genauen Beobachter sichtbar.
Ausnahmsweise einmal wäre sie froh gewesen im unauffälligen Körper der zierlichen Katze zu stecken. Dann hätte sie auch nicht derart weit nach oben gemusst, um sich zu verbergen.
Nun musste sie das Beste aus ihrer jetzigen Lage machen und einfach gut Acht geben, damit niemand sie so weit oben erblickte.
Als schließlich das Murmeln und Tuscheln im Zuschauerraum leiser wurde und Monsieur Reyer das Orchester die ersten Takte spielen ließ, öffnete sich der Vorhang und die Oper begann.
Interessiert nahm Katrina die ihr bekannten Bilder aus einer ganz neuen Perspektive wahr. Carlotta wirkte mit ihrem ausladendem rosafarbenen Kleid und der hoch getürmten Perücke einfach nur lächerlich, während Christine in dem einfachen Kostüm des Pagen einen sehr hübschen Anblick bot. Dieses Mädchen konnte einfach alles tragen und sah darin unverschämt gut aus. Wahrscheinlich würde sie selbst mit einem Jutesack bekleidet noch eine bezaubernde Erscheinung abgeben, dachte Katrina mit einem Anflug von Neid.
Sie seufzte leise. Christines Liebreiz ließ sich nun einmal nicht leugnen, aber Erik musste begreifen, dass es wichtigere Dinge gab, die zählten.
Ihr Blick schweifte zu Loge Nummer Fünf, in der Monsieur Firmin und Monsieur André Platz genommen hatten, eine weitere deutliche Missachtung der Befehle des Operngeistes. Nun sie würden in Kürze sehen, was sie davon hatten, dachte Katrina mitleidslos. Und dann würden sie bereuen, dass sie mit ihrem Altmetallgeschäft nicht einfach weitergemacht hatten wie bisher anstatt sich etwas aufzuhalsen, von dem sie nicht das Geringste verstanden.
Katrina wandte sich wieder dem Geschehen auf der Bühne zu und musste belustigt feststellen, dass Carlotta genauso wenig schauspielern wie singen konnte. So übertrieben und aufgesetzt wie sie agierte, wurde das ohnehin schon recht alberne Szenario noch mehr ins Lächerliche gezogen. Offensichtlich war das für diese Oper aber nicht weiter schlimm, denn den Zuschauern schien es zu gefallen, ihrem amüsierten Lachen nach zu urteilen. Noch waren alle ausgelassen und vergnügt, doch das würde sich in wenigen Augenblicken ändern.
Sie wusste, dass Erik bereits auf dem Weg nach oben sein musste. Das Fläschchen, dessen Inhalt Carlotta sich immer in den Mund sprühte, um ihre Stimme zu pflegen, hatte er gewiss schon ausgetauscht. Oh, es würde herrlich sein, gleich hautnah mitzuerleben wie die arrogante Operndiva sich vor aller Augen blamierte! Jeden Augenblick war es soweit.
Und dann, mitten in Carlottas Arie, erklang plötzlich Eriks dunkle Stimme, machtvoll und bedrohlich: „Habe ich nicht befohlen Loge Fünf frei zu halten?"
Erschrockenes Keuchen folgte seinen Worten und der gesamte Saal schien für einen Moment inne zu halten. Suchend blickten Darsteller und Zuschauer nach oben, ängstliches Gemurmel und Wispern machte sich breit. Die jäh aufgekommene Nervosität schien fast greifbar.
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No backward glances
FanfictionEin Mann, gezeichnet von einem grausamen Schicksal, gefangen in unendlicher Einsamkeit. Eine Frau, die alles zu tun bereit ist, um ihn aus diesem Elend zu befreien und ihm den Weg ins Licht zu weisen. Göttliche Einmischung, die alles durcheinander w...