Erik wälzte sich unruhig auf dem großen Bett hin und her. Ein leises Stöhnen entschlüpfte seinen Lippen, während er im Schlaf von seinen persönlichen Dämonen gepeinigt wurde.
„Abscheuliche Monstrosität! Ausgeburt der Hölle! Grässliche Laune der Natur!"
Das höhnische Gelächter der teuflischen Fratzen klang ihm noch immer unangenehm in den Ohren, als er schließlich die Augen aufriss und blicklos hinauf zur Decke starrte. Er zwang sich langsam ein und aus zu atmen und sein wild klopfendes Herz zu beruhigen.
Allmählich wurde er ruhiger, doch die Bilder und Worte waren fest in seiner Seele verwurzelt und schnitten tiefere Wunden als ein Messer es je könnte. Der Schmerz war allgegenwärtig und drohte ihn manchmal förmlich zu ersticken. Er hasste dieses Gefühl der Schwäche, hasste es, dass er nach all der Zeit immer noch so verletzlich war.
Mit einem wütenden Laut richtete er sich auf und schleuderte eines der weinroten Kissen an die Wand. Dann barg er seinen Kopf in den Händen.
Verfluchte Alpträume! Jedes Mal, wenn er die Augen schloss und Vergessen im Schlaf zu finden hoffte, wurde er von ihnen heimgesucht und daran erinnert was für ein abscheuliches Ungetüm er war.
Hörte das denn niemals auf? Würde er nie so etwas wie inneren Frieden finden?
Und dabei hatte er einfach nur ein wenig ruhen wollen, bevor er nachher wieder zu ihr ging.
Zu Christine.
Diesem unschuldigen, zarten Mädchen, das den starken Wunsch es zu beschützen in ihm weckte. Sie war ein liebliches Geschöpf, von anmutiger Schönheit und mit der Stimme eines Engels.
Ein Engel, der das volle Ausmaß seiner unvergleichlichen Stimme in keinster Weise zu nutzen wusste. Dieses ungenutzte Potential im Verborgenen zu lassen, hatte er nicht verantworten können. Nicht bei einem dermaßen vollkommenen Instrument. Ihr fehlte lediglich jemand, der ihr zeigte, wie sie ihren Gesang mit Seele füllen konnte.
Und so hatte er nach längerem Hin und Her begonnen ihr Unterricht zu erteilen. Er hatte einfach nicht widerstehen können. Eines späten Abends, nachdem es ihm durch List und Intrigen gelungen war sie in der Garderobe unterzubringen, in der er sie haben wollte, begann er für sie zu singen.
Verborgen in den tiefen Schatten hinter dem mannshohen Wandspiegel, der für Christine nicht mehr als bloßes Glas war, ihm jedoch erlaubte sie wie durch ein Fenster zu beobachten, ließ er eine verführerische Melodie erklingen.
Er wusste um die Macht seiner Stimme, das einzige an ihm was von überirdischer Schönheit kündete. Sein Gesang umschmeichelte sie und zog sie ganz langsam in seinen Bann. Wie süßes Gift sickerte seine Stimme in ihre Seele und weckte das Verlangen nach mehr.
Und von jenem Abend an war er ihr Engel der Musik. Ein Engel, der sich nie zeigte, und mit Strenge und Unnachgiebigkeit ihre Stimme zu formen begann und ihr den Glanz verlieh, der sie zu einer unbeschreiblichen Sängerin machte.
Zwei Monate waren seither vergangen und nun stand ihrer beide Triumph kurz bevor. An diesem Freitagabend würde Christine Carlottas Stelle einnehmen und ihren Part in „Hannibal" singen.
Und er würde sich von nichts und niemanden diese Chance nehmen lassen. Er hatte alles bereits genauestens geplant.
Sein Blick wurde düster, als er daran dachte, dass Monsieur Lefèvre in den Ruhestand trat und zwei neue Herren die Leitung seines Opernhauses übernehmen würde. Sie sollten nicht wagen ihm in die Quere zukommen. Das könnte sie teuer zu stehen kommen!
Schwungvoll erhob er sich vom Bett und marschierte mit wehendem Umhang in das große Gewölbe, in dem sein Heiligstes, seine Orgel, stand.
Mit einem leisen Seufzen ließ er sich auf dem Hocker davor nieder und schlug sacht die ersten Töne seiner neuesten Komposition an. Er schloss die Augen und lauschte versonnen den zarten Klängen, die sanft in der Luft zu schweben schienen, ehe sie verklangen.
Seine Hände verharrten noch einen Moment regungslos über den Tasten, ehe er sie langsam wieder sinken ließ.
Er wusste er machte sich etwas vor, wenn er sich einredete, dass er all dies ohne jeglichen Hintergedanken tat. Denn dem war nicht so.
Natürlich wünschte er sich, dass Christine endlich Anerkennung und Ruhm erntete für das unglaubliche Talent, das er in ihr zum Vorschein gebracht hatte.
Doch das war nicht alles.
Er wusste er war ein Narr, aber er konnte nicht anders. Gegen jegliche Vernunft hatte er eine verzehrende Leidenschaft für seinen jungen Schützling entwickelt. Eine gefährliche Besessenheit, die ihn in einen liebeskranken, sich nach Schönheit sehnenden Narren verwandelt hatte.
Ihm war nur zu gut bewusst wie lächerlich es war wenn jemand wie er jemanden wie sie begehrte. Sie verkörperte das Licht, er die Dunkelheit. Sie war jung und schön, er abstoßend und viel zu alt für sie.
Und dennoch wollte er nichts mehr als ihre Liebe.
Gleichzeitig wusste er, dass sie ihm diese niemals aus freien Stücken gewähren würde.
Eine jähe Welle des Zorns spülte ihn mit sich fort, als er sich diese grausame Wahrheit vor Augen führte. In blinder Wut sprang er auf und fegte sämtliche auf der Orgel ausgebreiteten Notenblätter und Partituren hinunter.
Als er die Ergebnisse seiner schöpferischen Arbeit in wilder Unordnung überall verstreut auf dem Boden liegen sah, bereute er seinen Ausbruch sofort. Mit einem Seufzen beugte er sich runter und begann alles wieder auf zu sammeln. Dabei fiel ihm ein schlichter Briefumschlag in die Hände.
Ein Gefühl der Neugierde bemächtigte sich seiner. Was war das für ein Umschlag? Er konnte sich nicht entsinnen ihn dort hingelegt zu haben.
Sorgsam legte er die Notenblätter zurück auf ihren Platz und widmete sich dann diesem unverhofften Geheimnis. Seine Finger zitterten leicht, als er einen beschriebenen Bogen Papier herauszog.
Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Staunen, als er las, was dort geschrieben stand:
Einsamer Engel,
Weder Bilder, noch Klänge, noch Wort
könnten beschreiben was an jenem Ort
mit mir geschehen, als ich dich gesehen.
Du in dunkler Nacht, den Schein hast entfacht.
K.
Wie vom Donner gerührt stand er da und starrte auf die Worte, als würden sie sich jeden Moment in giftige Schlangen verwandeln und ihn beißen.
Wer erlaubte sich solch einen geschmacklosen Scherz mit ihm? Wer erdreistete sich derlei herzlose Spiele mit dem berüchtigten Phantom der Oper zu spielen?
Er glaubte nicht, dass diese Worte ernst gemeint sein konnten. Kein Mensch würde je so von ihm sprechen.
Menschen brachten ihm stets nur Verachtung und Furcht entgegen.
Keine Bewunderung.
Mit einem zornigen Aufschrei zerriss er den Brief in tausend kleine Schnipsel und warf sie mit einer wütenden Geste in den See. Grimmig schaute er zu wie die Papierfetzen auf dem Wasser hin und her trieben und in alle Richtungen fort gespült wurden.
Er hoffte, dass er nie wieder etwas Vergleichbares zu Gesicht bekommen musste.
Jetzt blieb natürlich noch eine wichtige Frage zu klären. Wer hatte sich in sein Reich geschlichen und diesen Brief dort hingelegt? Und wieso hatte er nicht bemerkt, dass ein Eindringling bis in sein Allerheiligstes vorgedrungen war?
Das war nicht gut. Eine neugierige Person, die überall herum schnüffelte, konnte er gerade jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Nicht wo Christines Triumph so kurz bevorstand und er ohnehin schon genügend mit den beiden neuen Operndirektoren zu tun hatte, die in Kürze eintrafen.
Ein grimmiges Knurren entrang sich seiner Kehle, als er sich abwandte und sich auf den Weg machte.
Um den mysteriösen Verfasser dieser Zeilen, K., würde er sich so schnell wie möglich kümmern müssen, doch nun würde ihn nichts davon abhalten seine Unterrichtsstunde mit Christine zu genießen.

DU LIEST GERADE
No backward glances
FanfictionEin Mann, gezeichnet von einem grausamen Schicksal, gefangen in unendlicher Einsamkeit. Eine Frau, die alles zu tun bereit ist, um ihn aus diesem Elend zu befreien und ihm den Weg ins Licht zu weisen. Göttliche Einmischung, die alles durcheinander w...