1_Lucien

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Welches Leben lebe ich? Und zu welchem Preis?


Alles an diesem Tag versprach ein Tag wie jeder andere zu werden.

Ein perfekter Tag. Ein langweiliger. Ohne jede Aufregung. Ohne eine Hoffnung auf eine Zukunft, die anders war.

Ich wurde von einem der zahlreichen Dienstmädchen geweckt und zog mich daraufhin um. Im Anschluss betrachtete ich mich einen Moment im Spiegel und damit den Jungen, welcher mir entgegenblickte.

Dunkelbraune, leicht lockige Haare, warme, hellbraune Augen, weiche, freundliche Gesichtszüge. Ich war ein Ebenbild meiner Mutter, wie man mir stets vor Augen hielt. Meinem Vater missfiel das. Seit dem Tod dieser, hatte er kein Wort mehr über sie verloren und auch alle Bilder von ihr wurden vernichtet. Mit war allein ein einziges übrig geblieben, welches ich nun stets bei mir trug.

Der Tod meiner Mutter hatte meinen Vater verändert. War er einst ein Mann gewesen, der zwar Ziele hatte, aber sich durchaus auch Zeit für seine Familie nahm und gerne mal lachte, war er mittlerweile zu einem verbitterten, grausamen Mann geworden. Ich erkannte ihn kaum wieder. Ich liebte ihn noch immer- er war mein Vater- aber ich hasste ihn auch dafür, dass er mich in unserem Zuhause einsperrte.

Nachdem ich mich fertig angezogen hatte, frühstückte ich gemeinsam mit meiner Familie. Nun, genaugenommen nur mit meinen Schwestern. Mein Vater war vermutlich schon seit Stunden wach und befand sich wegen seiner Geschäfte nicht mal mehr auf dem Anwesen. Er war Vorsitzender des Rates, aber er hatte auch einige Firmen zu leiten.

Der Himmel war von einem strahlenden Blau. Wunderschön und doch irgendwie langweilig perfekt. Es gab kaum Tage in meinem Leben, in welcher der Himmel eine andere Farbe als diese gehabt hatte. Manchmal vermutete ich, dass der Rat einen Weg gefunden hatte, auch unser Wetter zu beinflussen um die Ernte zu optimieren, aber nie hatte man mir eine Antwort auf diese Frage gegeben. Genauso wie auf zahlreiche andere der Fragen, die in meinem Kopf herumschwirrten.

Als ich nach dem Frühstück mit meinem Tablet in den Garten nach draußen schlenderte, packte mich erneut die Sehnsucht als das große Tor in Sichtweite kam. Wie gerne würde ich einfach durch dieses hindurchschreiten und die Welt da draußen erkunden.

Ich erinnerte mich noch an meine Kindheit. Ich war oft mit meiner Mutter in der Stadt gewesen. Die Menschen hatten dort so lebendig und fröhlich gewirkt, während hier die meisten Tage einfach nur so vor sich hinplätscherten. Die Wünsche wurden mir regelrecht von den Augen abgelesen und ich bekam alles, was ich wollte.

Alles bis auf eines.

Niemals durfte ich dieses Anwesen hier verlassen.

Und vor ein paar Jahren hatte mein Vater mir auch jegliche Gäste verboten, die er nicht ganz genau kannte. Ich war als sein einziger Sohn und späterer Nachfolger im Amt des Vorsitzenden des Rates zu wertvoll, als dass mir etwas passieren dürfte. So wie meiner Mutter. Ein Schmerz und ein sehnsüchtiges Ziehen machten sich in meiner Brust breit, wie jedes Mal, wenn ich an meine Mutter denken musste.

Sie war bei einem Unfall gestorben.

Ein Diener hatte ein vollbeladenes Tablett mit Gläsern fallen lassen, meine Mutter war ausgerutscht und direkt in die Glassplitter gefallen- sie starb an inneren Blutungen, bevor ihr jemand helfen konnte.

Einer dieser herumfliegenden Glassplitter hatte mich im Auge getroffen. Ich schloss meine Augen und strich leicht über das rechte Lied. Würde ich jetzt in einen Spiegel schauen, würde mir ein hellbraunes Auge und eines mit einem goldenen Schimmer entgegenblicken. Das Auge schreckte mich gleichzeitig ab und faszinierte mich. Nur die wenigsten wussten, dass ich es besaß, denn es wurde als Schandmal angesehen. Auch erkannte man den goldenen Schimmer nur, wenn man sich sehr nahe an mir befand, weswegen ich solch eine Nähe stets zu vermeiden versuchte. Ich hätte mir längst ein neues Auge geben lassen können, doch weigerte ich mich immer dagegen- es war etwas, das mich an Mutter erinnerte. Es war keine positive Erinnerung, aber wenigstens war es überhaupt eine Erinnerung.  

Mein Blick wanderte wieder zu dem Tor und mein Kopf brauchte einige Sekunden um es zu realisieren. Das Tor stand offen und keine Wachen waren weit und breit zu sehen.

Wo befanden sie sich nur?

Ohne weiter über diese Frage oder eventuelle Konsequenzen nachzudenken, begann ich auf dieses zuzurennen und nur wenige Sekunden später war ich aus dem Anwesen heraus.

Ich verbarg mich in einem Gebüsch. Mein Herz raste unkontrolliert und meine Augen huschten panisch über die Landschaft, bis sie die Wachen erfassten. Ich hatte wohl genau die wenigen Sekunden erwischt, in denen sich niemand hier am Tor befand, weil der Wachwechsel vonstatten lief.

Ich atmete tief durch und versuchte durch langsame, bewusste Atmung mein wild gegen die Brust hämmerndes Herz zu beruhigen. Was sollte ich jetzt machen? Ich hatte bisher nie gewagt das Grundstück zu verlassen und jetzt hatte ich einfach aus dem Affekt heraus gehandelt.

Ich konnte aber auch schlecht einfach zurück gehen und bei den Wachen Einlass verlangen- mein Vater würde außer sich vor Wut sein, wenn er herausfand, dass ich das Anwesen verlassen hatte. Mein Körper spannte sich augenblicklich an, als er dadurch an all die Dinge erinnert wurde, welche mein Vater mir angetan hatte. Ich konnte das nicht noch einmal durchstehen.

Ich zögerte noch einen Moment und beschloss dann mich auf den Weg in die Stadt zu begeben. Wenigstens noch ein einziges Mal wollte ich all diese singenden, tanzenden und lachenden Menschen wiedersehen. Diese unbändige Freude in den Gesichtern aller. Ich vermisste diesen Anblick, welcher noch nie wirklich auf dem Anwesen meines Vaters existiert hatte. Natürlich gab es alles was man sich wünschte und alle gaben sich damit zufrieden, aber mir reichte es nicht um glücklich zu sein.

Glück war doch viel mehr als nur ein sicheres Leben im Luxus?

Mittlerweile hatte ich das sichere Gebüsch verlassen und mich davongeschlichen. Erst nachdem ich ein gutes Stück vom Grundstück entfernt war, traute ich mich wieder etwas aufrechter zu gehen.

Noch immer fragte ich mich, was ich da eigentlich machte. War es wirklich eine gute Idee? Ich kannte mich in der Welt hier draußen nicht aus. Alles war unbekannt und neu.

So in Gedanken versunken bemerkte ich gar nicht den jungen Mann, welcher mir entgegen kam. Ich befand mich inzwischen in der Nähe der Stadt und somit war es eigentlich auch nicht weiter verwunderlich, dass ich nicht die einzige Person auf der Straße war.

Als ich den Mann dann doch bemerkte, war es zu spät- ich war bereits in ihn hineingelaufen. Wir stürzten beide zu Boden.

Ich rappelte mich verlegen wieder auf und reichte ihm die Hand um ihm aufzuhelfen.

Mein Gegegnüber starrte mich nur mit offenen Mund an, anstatt meine Hand zu ergreifen und als ich ihn genauer betrachtete, wurde auch mir klar, was ihn so erstaunte.

Mir blickte nicht irgendein Fremder entgegen.

Ich blickte mir selbst entgegen.

Mein Spiegelbild.

Ich.

Fassungslos blickte ich mir selbst entgegen. Und mir selbst blickte ich entgegen.

Lynx&Lion - The RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt