Bin ich wirklich bereit mein einfaches Leben aufzugeben und die nächsten Wochen in Ungewissheit zu leben?
Am nächsten Tag trafen wir uns am Gartenzaun und ich überreichte Mic die Kamera. Danach fing ich mit meinen Lehrstunden über meine Familie an. Mic folgte diesen aufmerksam und prägte sich alles ein. Meine Warnung, dass es lebensgefährlich für ihn werden könnte, ließ ihn dabei kalt. Er meinte, dass es ihm die ganze Sache wert sei.
Die nächsten Tage verliefen ähnlich. Wir trafen uns gegen Mittag und verbrachten gemeinsam den ganzen Nachmittag. Während ich Fotos und Videos von meiner Familie und Freunden zeigte und auch Fotos von den Dienern, erzählte ich von diesen, deren Vorlieben und Abneigungen und vor allem auch von meiner Vergangenheit, meinen Abneigungen, Vorlieben, meinem Verhalten. Was trug ich am liebsten, was aß ich am liebsten und so weiter und so fort. Jedes Detail konnte für Mic über Leben und Tod entscheiden.
Meine Vorsicht gegenüber ihm war gesunken und ich vertraute ihm Dinge an, die ich schon lange niemandem mehr erzählt hatte. Vielleicht lag es daran, dass ich keine Freunde besaß und es schön war, endlich mal wieder mit jemandem meines Alters sprechen zu können- Mic war nur ein Jahr jünger als ich.
Eines Tages brachte ich Mic auch den Plan unserer Hauses. Zeigte und erklärte ihm jeden Raum, sodass er sich nach dem Tausch dort ohne Probleme zurechtfinden würde. Auch die gröbsten Höflichkeitsetiketten und Verhaltensregeln brachte ich ihm bei. Konnte er diese nicht, würde es sofort auffallen, denn es gab zahlreiche davon, welche ich alle perfekt beherrschte. Sie waren mir zu genüge seit meiner Kindheit eingetrichtert worden. Oder genauer gesagt wohl eingeprügelt, denn mein Vater hatte jeden Fehler zum Anlass für eine Bestrafung genommen.
Wir hatten das Glück, dass mein Vater in einer Woche auf eine Geschäftsreise musste, auf welcher er für unbekannte Zeit bleiben würde. Diese Zeit konnte Mic nutzen, um sich in sein neues, kurzzeitiges Leben einzugewöhnen. Somit stand nun auch der Zeitpunkt unseres Tausches fest und meine Nervosität, aber auch Vorfreude, stieg mit jedem Tag.
Mic erzählte mir auch aus seinem Leben und benutzte die selbstgeschossenen Fotos mit der kleinen Kamera als Unterstützung. So erfuhr ich nach und nach von seinem Leben, auch wenn ich immer wieder das Gefühl hatte, dass er mir etwas verschwieg. Immer wenn ich anfing von der wunderschönen Zeit zu erzählen, die meine Mutter und ich in der Stadt verbracht hatten und von dem Lachen der Menschen, sowie der farbenfrohen, lebendigen Stadt, verstummte Mic und sein Lächeln wurde irgendwie traurig. Vielleicht hatte er eine schmerzvolle Erfahrung in der Stadt gemacht. Ich fragte nicht weiter nach. Er würde es mir entweder von sich aus erzählen oder gar nicht.
Nach und nach lernte ich auch seine Freunde kennen, von denen er in der Stadt nicht gerade viele besaß, seine Familie dagegen war vor langer Zeit bei einem Unfall gestorben. Er selbst lebte relativ zurückgezogen und war meist nur nachts unterwegs. Das lag vermutlich vor allem auch an seiner Arbeit- er arbeitete nämlich als Nachtwächter der Stadt. Deswegen verschlief er meistens den Tag und ließ sich nur selten draußen blicken. Das war mein Glück- genauso wie der Zufall, dass er an dem Tag unserer Begegnung unterwegs gewesen war- so würde eventuell verändertes Verhalten eigentlich niemanden auffallen.
Da ich dank einiger medizinischer Behandlungen, welcher jeder, der Mitglied einer adeligen Familien war, durchzogen hatte, nur drei Stunden am Tag schlafen musste, um meinen Körper zu erholen, konnte ich sowohl dem Job nachgehen, als auch tagsüber die Stadt erkunden.
Der Tag rückte näher und näher und schließlich war es so weit. Ich trug einen winzigen Knopf im Ohr, welcher gerade mal die größe eines Staubkornes besaß und deswegen niemandem auffallen würde. Dank dieses Mikrophons konnte mich Mic die ersten Tage unterstützen, sodass ich nicht ganz alleine auf mich gestellt war. Über eine kleine Kamera, mit der Mic die letzten Wochen ausgestattet gewesen war und welche nun ich trug, konnte Mic sehen was ich sah- sie sendete, solange sie eingeschaltet war, ständig ein Live-Video an mein Tablet. Als Mic am Zaun eintraf, hatte er einen Rucksack dabei, welchen er mir reichte.
"Pass aber auf, was du mitnimmst!", ermahnte er mich. Ich nickte und beschloss wirklich nur das allernötigste mitzunehmen. Jede einzelne Sache erhöhte das Risiko, dass ich aufflog. Ich nahm ein kleines Foto von meiner Mutter und mir mit. Ein Bild von meinem Vater oder auch meinen Schwestern wäre zu riskant gewesen- sie waren zu bekannt. Außerdem entschloss ich mich dazu ein Messer mitzunehmen, welches mir mein Vater zu meinem 6. Geburtstag geschenkt hatte. Außerhalb dieser Dinge nahm ich noch ein bisschen Geld mit. Auf Anraten Mics, nachdem ich zu ihm zurückgekehrt war, verwahrte ich diesen in einer versteckt liegenden Seitentasche des Rucksacks.
Ich wartete den nächsten Wachwechsel ab, dann huschte ich aus dem Tor- mittlerweile hatte ich ein Auge dafür entwickelt, wann ein geeigneter Zeitpunkt war. Dann traf ich mich mit Mic an der Stelle, wo wir uns normalerweise durch den Zaun hindurch unterhielten und tauschten unsere Kleidung. Mic überreichte mir auch seine Wohnungsschlüssel- er hatte mir bereits genau beschrieben, wo seine Wohnung lag, ich sollte sie also eigentlich finden müssen.
Ich trug nun eine schwarze Hose und ein einfaches graues Shirt, welches der seltsamen Farbe nach zuvor wohl ursprünglich mal weißer gewesen war. Eigentlich hätte mich diese Tatsache vielleicht beunruhigen sollen, aber ich war zu sehr auf das fokussiert, was vor mir lag, als mir Gedanken über irgendwelche Unstimmigkeiten zu machen.
Schweren Herzens überreichte ich Mic das letzte, was meine eigentlich Identität verriet. Es würde auffallen, wenn er es nicht trug.
Das Medaillon.
Ich trug es Tag und Nacht und es war das, was mich wohl als Lucien de Chimico auszeichnete. Das wichtigste Entscheidungsmerkmal meinerselbst.
Ich lächelte ihn nervös an und umarmte ihn einen Moment.
"Lass uns in einer Woche wieder hier treffen und das weitere Vorgehen besprechen, okay?", fragte ich nach, woraufhin Mic nickte und mich anlächelte. Sein Lächeln wirkte etwas angespannt, als würde er sich dazu zwingen müssen, aber ich schob es auf seine Nervosität. Auch ihn erwartete vorerst ein völlig anderes Leben.
Ich drehte mich um und machte einen Schritt in Richtung Stadt.
Einen Schritt in meine neue Heimat für einige Zeit.
Einen Schritt in die Ungewissheit.
Einen Schritt in ein völlig neues Leben.
Einen Schritt in ein neues Ich.
Einen Schritt in mehr, als ich jemals erwarten konnte.
Einen Schritt in eine Zukunft, die mir niemals vorherbestimmt war.
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Lynx&Lion - The Rebellion
Teen FictionBand 1 der Lynx&Lion- Reihe ________________________ Eigentlich ist die Welt der Wissenschaft schon sehr fortgeschritten, doch davon bekommen nur die Wenigsten etwas mit. Die Reichen werden immer reicher und leben ein Leben im Luxus- ohne je Hunger...