25_Lucien

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Ist es in Ordnung Menschen zu belügen, wenn man dadurch sein eigenes Leben rettet?


Ich zuckte leicht zusammen, als Azad's Schwester nach meinem Arm griff. Auch wenn die Wunde nicht so tief war, wie sie eigentlich sein müsste, so schmerzte sie dennoch.

"Danke, das ist wirklich nett von dir!", meinte ich dann lächelnd zu ihr und ignorierte ihren Blick, welcher für meinen Geschmack etwas zu lange auf mir ruhte. Ahnte sie etwas? Ich wusste nicht, wie gut sie als Ärztin war, aber dem vielen Blut auf meinem provosiorischen Verband nach, hätte die Wunde vermutlich tiefer sein müssen.

Ich war erleichtert, als sie nichts mehr dazu sagte und stattdessen ihrem Bruder ein paar Anweisungen gab- auch wenn ich mir die Erleichterung nach außen nicht anmerken ließ. Ich kam Helin's Aufforderung nach- sie hatte sich mittlerweile vorgestellt- und ließ mich auf einem wackligen Hocker nieder.

Kurz darauf kehrte Azad zurück und ließ ein Shirt neben mir fallen. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich ein Shirt von ihm tragen wollte, aber vermutlich hatte ich gerade nicht wirklich eine andere Wahl.

"Danke. Und keine Sorge, hatte ich nicht vor...", meinte ich ernst. Sie war hübsch- das schon-, aber ich hatte noch nie wirklich Interesse an irgendeinem Mädchen gehabt. Deswegen war ich auch umso froher gewesen, dass meinem Vater meine Ausbildung stets wichtiger gewesen war, als mich mit irgendeinem adeligen Mädchen zu verloben. Für eventuelle Handelsbeziehungen waren meine Schwestern da- daher war meine älteste Schwester auch bereits verlobt obwohl sie jünger als ich war.

Auch wenn mein Vater davon nichts wusste und auch sonst niemand, auch keiner meiner ehemaligen "Freunde" - es waren wohl mehr flüchtige Bekannschaften, aber noch das näheste, was an einen Freund herankam- oder eine meiner Schwestern, hatte ich mich schon immer mehr von Jungen angezogen gefühlt. Es gab Mädchen, die ich hübsch fand, aber immer waren es Jungen gewesen, zu denen ich mich mehr hingezogen fühlte und die mich einfach mehr faszinierten. Aber bei uns Adeligen war Liebe gegenüber dem gleichen Geschlecht eher ungerne gesehen oder genauer gesagt verpönt, weswegen ich dies noch niemals jemandem gesagt hatte.

Während Helin begann meine Wunde zu versorgen, erinnerte ich mich an die erste Person zurück, in welche ich jemals verschossen gewesen war.

Das war bei einem der wenigen Male gewesen, als ich mit meiner Mutter in der Stadt gewesen war. Ich war zu dem Zeitpunkt vielleicht sechs Jahre alt gewesen- es war das letzte Mal, dass ich in der Stadt war und das Mal, an welches ich mich am besten erinnerte- und wusste noch nicht viel von der Liebe. Es kam, dass meine Mutter und ich getrennt wurden und ich daher alleine durch die Stadt irrte. Ich hatte Hunger und Durst und wollte einfach nur noch weinen.

Irgendwann konnte ich nicht mehr und ließ mich erschöpft auf einer Bank nieder, während die Menschen unbeachtet an mir vorbeiliefen. Und dann tauchte er auf. Ich erinnerte mich nicht mehr genau an ihn. Nicht an sein Aussehen oder seinen Namen- ich wusste nicht mal mehr, ob er mir seinen Namen überhaupt genannt hatte. Er war vielleicht zwei Jahre älter als ich. Er war der Einzige, der mich beachtete und der mir seine Hand entgegenstreckte, um mir zu helfen. Mit ihm an meiner Seite fühlte ich mich sicher und schaffte es tatsächlich meine Mutter wiederzufinden. Bevor ich dem Jungen auch nur danken konnte, war er bereits wieder verschwunden. Von da an musste ich jeden Tag an ihn denken und es dauerte lang, ehe ich ihn wieder etwas vergessen konnte. Doch er war immer in meinem Herzen geblieben und ich fragte mich noch jetzt, wie es ihm wohl ging und wo er war.

Ich fragte Helin nicht nach Azad. Ich hatte im Gefühl, dass dieser es nicht gutheißen würde, wenn ich andere über ihn ausfragte. Er würde mir wohl von sich aus mehr über sich erzählen müssen.

Als Azad's Schwester fertig war, stand ich auf und zog mir das zerissene und blutige Shirt über den Kopf, dann zog ich mir Azads an. Er war zwar größer als ich und auch etwas breiter, weswegen mir das Shirt etwas zu groß war, trotzdem passte es einigermaßen und ich war froh, wieder etwas Saubereres zu tragen. Auch wenn es mir lieber gewesen wäre, wenn es nicht gerade etwas von Azad war. Vielleicht sollte ich mir von dem Geld, was ich besaß ein neues Shirt kaufen. Nein, besser nicht, ich wusste nicht, ob ich das Geld nicht noch für etwas anderes, wichtigeres benötigen würde.

Gemeinsam mit Helin verließ ich das Haus und ich bedankte mich bei ihr noch einmal für alles, wobei ich erneut darauf achten musste, nicht in meine gewohnte Sprache zu verfallen. Als Azad meinte, dass er dann wohl mal mit seiner Stadtführung beginnen würde, nickte ich. "Klingt nach einer guten Idee. Und danke fürs Warten!"

Ich lächelte ihn an, während ich das Messer inklusive dessen Halter wieder an meiner Hose befestigte- ich hatte es vorher der Höflichkeit halber abgelegt. Ich trug immer noch das, welches ich dem Mann gestern abgenommen hatte. Im Nachhinein war es mir nämlich nicht sonderlich schlau erschienen so ein wertvolles Messer, wie mein Vater mir geschenkt hatte- es war mit Edelsteinen verziert-, ständig herumzutragen.

"Mich interessieren allerdings mehr, was die Gebäude im Inneren jeweils beherbergen, als die einfachen Straßen. Ich habe mich bereits zu Genüge umgeschaut und habe ein gutes Gedächtnis, sodass ich mich in Zukunft ohnehin leicht hier zurechtfinde. Und was mich vor allem interessiert ist die Geschichte der Stadt. Was ist hier in den letzten Jahren passiert? Seit wann gibt es die Rebellen? Als ich das letzte Mal im Alter von 6 Jahren hier war, war die Stadt so viel lebendiger und bunter und fröhlicher. Aber das, was du mir zuvor erzählt hast von der Armut dieser Stadt, klingt nicht danach, als würde es euch erst seit der Zeit danach so schlecht gehen."

Ich blickte Azad fragend an und noch viel mehr Fragen brannten auf meiner Zunge. Es gab einfach so viele Dinge, welche mich interessierten und die für mich völlig unverständlich waren und ich hatte endlich jemanden, der mir eine Antwort darauf geben konnte.

Zumindest nach und nach- ich sollte ihn mit meinen Fragen nicht überrennen.

Lynx&Lion - The RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt