Bin ich die Person, welche alle in mir sehen oder die Person, die ich in meinem Inneren bin?
Wir brauchten beide einen Moment um uns zu fassen.
Erst langsam wurde mir bewusst, dass ich nicht in einen Spiegel blickte. Dass mir nicht mein Spiegelbild entgegenblickte. Aber wie war es möglich, dass mir der junge Mann so unglaublich ähnlich sah?
"Ich bin Mic Ayano!", brach der andere Junge schließlich das Schweigen und hielt mir mit einem vorsichtigen Lächeln seine Hand entgegen- er schien die Situation auch noch nicht wirklich begriffen zu haben. Ich zögerte noch einen Moment, dann ergriff ich sie und zog ihn hoch, sodass wir uns nun gegenüberstanden.
"Lucien de Chimico!"
Der Junge riss seine Augen vor Überraschung weit auf und ich hatte Sorge, dass er mir vielleicht wieder umkippte. "Du bist ein de Chimico?", fragte er überrascht nach und es schwang ein Unterton in seiner Frage mit, den ich nicht wirklich einordnen konnte.
Wir setzten uns ein Stück vom Weg entfernt ins Gras und stellten uns einander etwas besser vor- auch wenn ich vorsichtig mit den Informationen war, die ich ihm verriet. Ich kannte ihn nicht und genauso wenig kannte ich seine Absichten. Mein Vater hatte mir im Umgang mit Fremden beigebracht Vorsicht walten zu lassen. Zwar begegnete ich kaum je einer fremden Person, aber nun beherzigte ich seinen Rat.
Im Laufe des Gesprächs kam heraus, dass wir eindeutig nicht verwandt sein konnten, aber dennoch war unsere Ähnlichkeit verblüffend.
Ich musterte Mic nochmal eine Weile stumm und stellte fest, dass er die gleichen Lachgrübchen hatte wie ich. Die gleiche Nase, die gleichen Lippen, die gleichen weichen Gesichtszüge. Auch unsere Augen hatten einen ähnlichen Farbton, nur dass sein rechtes Auge natürlich nicht golden war und er diesen Fakt von mir auch nicht wusste, weil ich es ihm nicht ezählt hatte.
Unsere Haarfarbe war ebenfalls sehr ähnlich und unsere Stimmen hatten einen ähnlichen Klang, wenn seine Stimme auch einen winzigen Ticken tiefer als meine war. Vielleicht gab es ja doch Verwandte auf Seiten meiner Mutter, von denen ich nichts wusste. Diese Ähnlichkeit war einfach zu groß um ein Zufall zu sein.
Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, dass mir gegenüber mein Zwillingsbruder saß oder dass ich einen Spiegel blickte, so wie ich es im ersten Moment vor Schock gedacht hatte.
Wir sahen uns wirklich so ähnlich, dass wahrscheinlich nicht mal mein Vater oder meine Schwestern uns unterscheiden konnten.
Und in dem Moment, als ich das dachte, reifte eine Idee in meinem Kopf heran.
Doch bevor ich etwas sagen konnte, meinte Mic seufzend: "Schon ungerecht, obwohl wir uns so ähnlich sind, lebst du ein Leben in grenzenlosem Luxus. Wenn wir doch nur bei der Geburt als der jeweils andere hätten geboren werden können. Ich wünschte ich hätte dein Leben."
Ein Hauch von Neid klang in seiner Stimme mit- vielleicht sogar mehr als das. Eifersucht auf mein Leben. Das war neu und ich verstand nicht warum. Wenn er mehr über mein Leben wüsste, würde er bestimmt nicht mit mir tauschen wollen. Und er hatte ein Leben in Freiheit- wie konnte er das für ein Leben hinter Gittern aufgeben wollen? Ich hatte ihm anvertraut, dass ich eigentlich nicht hier sein durfte, dass ich in meinem eigenen Zuhause eingesperrt war. Und trotzdem beneidetete er mich.
Vermutlich wäre das der Zeitpunkt gewesen, an dem ich misstrauisch hätte werden sollen. Aber der einzige Gedanke, der meinen Kopf in diesem Moment füllte, war, dass ich vielleicht eine Chance auf ein wenig Freiheit durch dieses Zusammentreffen bekommen hatte.
Meine Idee festigte sich immer mehr, auch wenn ich nicht wusste, was mich erwartete. Ich kannte Mics Reaktion nicht und ich wusste nicht, wie meine Zukunft sich dadurch entwickeln würde. Doch das Verlangen nach Freiheit brannte so hell in mir, dass es jeden zweifelnden oder misstrauischen Gedanken meines Unterbewusstseins übertönte.
Und bevor ich meine Meinung ändern konnte, sprach ich es aus: "Was hältst du davon, wenn wir einfach eine Zeit lang tauschen?"
Mic blickte mich überrascht an.
"Tauschen? Wie meinst du das?"
"Nun ja...Wir könnten unsere Plätze tauschen...zumindest für ein bis zwei Wochen", schlug ich etwas verlegen vor. "Also natürlich mit einiger Vorbereitung, wenn du meinen Vater und meine Schwestern nicht kennen würdest, wenn du ihnen begegnest, dann wäre das wohl ziemlich auffällig!"
Auf Mics Gesicht breitete sich ein breites und auch ein bisschen ungläubiges Grinsen aus.
"Und du würdest tatsächlich mit mir tauschen?", fragte er nach, als würde er denken, dass ich einen Scherz mit ihm trieb.
"Ich könnte einige Zeit dein Leben leben?"
"Ich will einfach für ein paar Tage frei sein- alle erfüllen stets jeden meiner Wünsche, aber dafür bin ich in unserem riesigen Anwesen gefangen und darf dieses nicht verlassen. Dabei zieht es mich nach draußen- in die Stadt... Ich will wenigstens noch ein einziges Mal dorthin zurückkehren", erklärte ich und lächelte mein Spiegelbild an, während mein Herz ängstlich in meiner Brust schlug. Das war wohl die einzige Möglichkeit für eine lange Zeit, die sich mir bot. Was war, wenn Mic ablehnen würde?
Mic zögerte noch kurz- ihn schien irgendetwas zu beschäftigen, doch dann reichte er mir die Hand.
"Abgemacht!", meinte er mit einem breiten Grinsen. Auch er schien sein Glück kaum fassen zu können
Ich schlug ein und nickte freudestrahlend. Endlich würde ich diese nervigen Verpflichtungen und Fesseln loswerden, die meine Herkunft mit sich brachten. Endlich würde ich mich einmal frei fühlen können und dorthin gehen können, wohin ich gehen wollte.
Zumindest für kurze Zeit.
Mic und ich beschlossen uns morgen um die gleiche Zeit am Zaun des hinteren Teils meines Anwesens zu treffen. Dann würde ich ihm eine kleine Kamera mitgeben, sodass er Fotos von seinem Zuhause und seinen Bekannten und Verwandten machen konnte. Diese würde die Bilder direkt an mein Tablet schicken. Zwar wäre es weniger schlimm, wenn Mics Angehörige erkannten, dass ich nicht er war, doch trotzdem würde es für Fragen sorgen und ich wollte ihn nicht in Gefahr bringen.
Während unserer Treffen konnten wir uns über unsere gegenseitigen Leben austauschen und ich würde ihm Bilder von meiner Familie und allen Angestellten zeigen können, sowie einen Gebäudeplan, damit er sich auch problemlos zurechtfinden würde.
Mic hatte noch etwas zu erledigen, weswegen er sich kurz darauf verabschiedete und mich mit zahlreichen Gedanken zurückließ.
Konnte es wirklich funktionieren?
Würde ich ein bisschen Zeit in Freiheit verbringen können, ehe mich die Verpflichtungen wieder einholten?
Ich hoffte so sehr auf ein friedliches Leben und wenn Mic unbedingt dieses meine Leben führen wollte, war das doch ein guter Tausch, oder?
Es hatte mich schon immer brennend interessiert, wie andere Menschen ihr Leben lebten. Ich erwartete keinen so großen Reichtum, wie ihn meine Familie besaß, aber bestimmt würde die Stadt vor Leben nur so summen. Es gab so viele zahlreiche Erfindungen, welche unser Leben vereinfachten und bestimmt würde das in der Stadt nicht anders aussehen- vielleicht hatten die Stadtbewohner sogar einige Erfindungen, die es bei uns gar nicht gab. Vorfreude hatte meinen ganzen Körper, sowie mein Herz erfasst und als ich mich auf den Rückweg machte, musste ich mich immer wieder daran erinnern, dass ich vorsichtig sein musste und nicht vor Freude durch die Gegend hüpfen durfte.
Bei einer weiteren Wachablösung- nachdem ich gefühlte Stunden wieder in dem Busch gekauert hatte-, schaffte ich es tatsächlich auf das Anwesen zurückzuschleichen. Dort bereitete ich so viel vor wie ich konnte. Alles musste perfekt ablaufen. Wenn unser Tauschspiel auffiel, würde Mic getötet werden. Das war die Schattenseite daran und ich würde Mic morgen auch darüber aufklären- er sollte sich bewusst sein, welches Risiko er einging.
Dass es auch für mich tödlich enden könnte, wenn unsere Tarnung aufflog, ahnte ich noch nicht.
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Lynx&Lion - The Rebellion
Teen FictionBand 1 der Lynx&Lion- Reihe ________________________ Eigentlich ist die Welt der Wissenschaft schon sehr fortgeschritten, doch davon bekommen nur die Wenigsten etwas mit. Die Reichen werden immer reicher und leben ein Leben im Luxus- ohne je Hunger...