35_Lucien

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Wie sollte man reagieren, nachdem man eines seiner größten Geheimnisse jemandem verraten hat, den man kaum kennt?


Ich lief unbeirrt auf die Bibliothek zu- mein Erinnerungsvermögen und meine Füße leiteten mich dort hin, ohne dass ich groß darüber nachdenken mussten. Alles in mir brodelte und ich hätte mir am liebsten das Mikro aus dem Ohr gezogen und zerstört, als sich Mic bei mir zu Wort meldete. "Das war... wow... damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet..." Ich knurrte nur, obwohl ich wusste, dass mich Mic nicht hören konnte. Stimmte ja- er hatte auch alles mitangesehen. Zwar hatte er nichts gehört, aber er hatte sich den Streit wohl zusammenreimen können.

Ich war froh, dass er wenigstens das Geständnis über meine Neigung zum männlichen Geschlecht nicht mitbekommen hatte. Es genügte, dass Azad es nun wusste und ich hatte um ehrlich zu sein Angst, was er mit diesem Wissen anfangen würde.

Vielleicht hatte ich ihn dadurch nun wirklich und für immer vergrault. Es war nicht so, dass ich auf ihn stand, auch wenn ich ihn durchaus attraktiv fand- gerade durch sein außergewöhnliches Aussehen hob er sich von allen anderen ab- aber ich kannte ihn ja kaum. Und ich zweifelte, dass ich ihn jemals besser kennenlernen würde. Nicht, wenn sich Azad mir gegenüber nicht etwas öffnen und Vertrauen fassen würde.

Vertrauen zu dem Falschen.

Immerhin belog ich ihn- zwar in kaum welchen Dingen, aber doch im Wichtigsten, nämlich wer ich wirklich war. Wie würde er reagieren, wenn er es herausfand? Im Moment würde er mich wohl ohne zu Zögern ausliefern und als Druckmittel gegen meinen Vater missbrauchen.

Ich hätte mich selbst ausgeliefert, wenn ich darin eine Chance gesehen hatte, aber das Problem war, dass ich zwar der einzige Sohn meines Vaters und somit einziger Nachfolger auf seinen Sitz als Ratsvorstand war, aber meinem Vater dennoch nicht genug bedeutete, dass er dafür die ganze Elite gefährden würde.

Seine Arbeit und Verpflichtung als Vorstand waren ihm einfach mehr wert als ich- das hatte ich mein ganzes Leben über zu spüren bekommen. Und ich verurteilte ihn nicht dafür- er war grausam, so sehr ich ihn auch liebte. Und er auch mich- auf seine eigene Art von Liebe, die ihn dazu brachte mich all die Jahre wegzusperren und von der Außenwelt fernzuhalten, sodass ich niemals erfuhr, wie schlimm es um diese Welt doch eigentlich stand. Außerdem war da ja immer noch Mic, welcher den ersten Test meines Vaters- nämlich das Aussehen- überstehen würde. Er würde die Rebellen also nur auslachen, wenn sie behaupteten, dass sie seinen Sohn hatten und ihn töten würden, wenn er nicht gehorchte.

"Du hast wirklich Mut, dass du dich mit ihm anlegst. Ich habe bisher nur Gerüchte über den Löwen gehört, aber die waren nicht immer die freundlichsten... Und er ist bekannt dafür ein Einzelgänger zu sein, der sein eigenes Ding durchzieht. Es wundert mich ja, warum er überhaupt für dich zuständig ist, er hätte sich leicht weigern können- niemand hätte ihn daran gehindert..."

Danke für die Warnung, die hätte ich durchaus früher gebrauchen können. Also das meiste wusste ich natürlich schon und dass er ein Einzelgänger war, hätte ich mir eigentlich denken können, trotzdem hatte ich seit dem Zeitpunkt, wo wir uns das erste mal begegnet waren auf mehr gehofft.

Im Sinne von Freundschaft natürlich.

Selbst wenn ich eines Tages mehr als freundschaftliche Gefühle für Azad entwickeln sollte, so würden diese ohnehin vergeblich sein. Ich bezweifelte stark, dass der Rebell ebenfalls Neigungen zum männlichen Geschlecht verspürte. Und darum war es vermutlich sogar gar nicht schlecht, wenn ich mich von Azad etwas weiter entfernt hielt. Schon jetzt faszinierte er mich einen Ticken zu sehr- abgesehen von seinem unmöglichen Verhalten eben, aber da war ich vermutlich auch nicht viel besser gewesen. Ich verpürte mit einem Mal den Drang mich zu entschuldigen, aber beschloss dann standhaft zu bleiben- ich würde jetzt nicht umkehren und Azad doch nachlaufen.

Mic redete noch eine Weile länger vor sich hin und ich gelangte immer näher an den Zeitpunkt tatsächlich das Mikrophon für immer zu zerstören, aber ich bekam meinen Zorn, der- durch Azad entfacht- immer noch schwelte, langsam wieder unter Kontrolle. Ich würde Mics Hilfe eines Tages vielleicht noch gebrauchen. Also igorierte ich seine Stimme in meinem Ohr einfach, bis ich schließlich die Bibliothek betrat. Nun verstummte auch Mic- er sah wohl ein, dass sein Gerede nichts brachte und ich schaltete die winzige Kamera ab, sodass ich endlich mal für mich alleine sein konnte.

Staunend irrte ich stundenlang durch die Reihen der Bibliothek- sie war größer, als die, die wir zuhause hatten und enthielt völlig andere Werke- meist in einem schlechten Zustand. Trotzdem waren es endlich Bücher, die mich weiterbrachten- über die Geschichte dieses Landes und noch vieles mehr.

Ich las mich in viele Bücher hinein und begann langsam ein wenig mehr zu verstehen, wie es zu der Spaltung gekommen war.

Warum mittlerweile beinahe zwei Welten koexistierten.

Es war eine lange und komplizierte Geschichte und sie ließ sich nicht in einem einzigen Satz zusammenfassen. Um sie zu erzählen, würde es Stunden dauern und ich hatte nur einen Bruchteil dieser überhaupt aus den einzelnen Büchern zusammengeklaubt und verstanden.

Ich würde Azad darauf ansprechen... falls wir uns denn noch einmal sehen würden und Azad nicht so wütend auf mich war, dass er mich nicht mehr als seinen Rekruten haben wollte.

Aber ich würde wohl noch so einige Tage und Wochen in dieser Bibliothek verbringen müssen um alles zu verstehen.

Ich verließ die Bibliothek erst bei ihrer engültigen Schließung am Abend und kaufte mir auf der Straße eine Kleinigkeit zum Essen. Ich hatte möglichst viele verschiedene Bücher durchgearbeitet und nur grob überflogen, in der Hoffnung, dass ich auch etwas mehr über die Rebellen erfahren würde, aber dieser Plan war nicht aufgegangen. Ich hatte kein einziges Buch gefunden, in welchem die Rebellen überhaupt nur erwähnt wurden. Es war beinahe schon, als würden diese überhaupt nicht existieren und ich hätte mir alles nur eingebildet.

Seufzend machte ich mich auf den Rückweg zu einer der Unterkünfte der Rebellen um dort ein Bett für die Nacht zu finden- genaugenommen wählte ich die gleiche Unterkunft wie letzte Nacht, dort war es mir einigermaßen sicher erschienen. Eigentlich müsste ich noch nicht zu Bett gehen, aber ich fühlte, dass mich die Müdigkeit langsam übermannte. Der Tag war anstrengend und nervenaufbreibend gewesen. Dafür würde ich wohl am Morgen viele Stunden vor Sonnenaufgang bereits wach im Bett liegen. Ich betrat schließlich den Schlafraum, in welchem bereits fünf andere Jungen in meinem Alter schliefen. Ich legte mich auf meine enge, harte Pritsche und schloss meine Augen- mit meinen Fingern den Griff des Messers fest umklammert. Kurz darauf schlief ich ein.

Erstaunlicherweise wurde ich erst bei Sonnenaufgang wach, wodurch ich viele Stunden mehr geschlafen hatte als ich eigentlich benötigte, aber ich fühlte mich gut erholt und darum beschwerte ich mich auch nicht. Die Wunde an meinem Arm sah zwar besser aus, aber der Verband war immer noch blutgetränkt und ich beschloss, dass es wohl besser war Azads Schwester aufzusuchen, damit diese den Verband wieder erneuerte. Sie hatte mir eigentlich einen Verband als Ersatz mitgegeben, aber ich musste ihn irgendwo verloren haben, denn er war nirgendwo auffindbar.

Ich machte mich also auf den Weg zu deren Haus in der Hoffnung, dass Azad sich nicht dort aufhalten würde. Als ich schließlich vor der Tür stand, atmete ich einmal tief durch, dann klopfte ich an und wartete, dass die Tür geöffnet wurde. Es war noch früh am Morgen und ich war mir nicht sicher, ob überhaupt schon jemand wach war, aber es kam auf einen Versuch an, da ich hoffte, dass Azad dann vielleicht noch nicht hier sein würde.

Lynx&Lion - The RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt