Wann genau hat mein Leben eine Abzweigung genommen, die ich nicht bemerkt habe?
Der Weg zur Stadt zog sich ewig. Aber mit jedem einzelnen Schritt wurde es mir leichter ums Herz und irgendwann fing ich einfach an zu laufen. Die Sonne stand noch tief am Himmel, ich hatte also den ganzen Tag um die Stadt zu erkunden.
Und dann tauchte sie endlich vor mir auf. Unwillkürlich breitete sich ein Strahlen auf meinem ganzen Gesicht aus. Endlich war ich wieder hier. Wie lange hatte ich mich danach gesehnt.
Vor dem Stadttor wurde ich wieder etwas langsamer- erkannte mich jemand, würde ich ziemliche Probleme bekommen und Mic noch größere. Ich war zwar weniger bekannt als meine Schwestern, obwohl und genau aus dem Grund eigentlich, dass ich der nächste Vorsitzende des Rates werden würde. Mein Vater hatte mich mit Absicht aus dem Visier der Öffentlichkeit herausgehalten, weil er um meine Sicherheit fürchtete. Ich hatte mich zwar immer gefragt, wer mir Schaden zufügen wollen könnte, aber ich hatte diese Aussage nicht weiter hinterfragt.
Als ich endlich durch das Stadttor hindurch war, atmete ich erleichtert auf. Sie sahen mich als einen der ihren an. Niemand hatte mir auch nur einen etwas längeren Blick geschenkt.
Ich sah mich um und überlegte einen Moment, ob ich in der falschen Stadt gelandet war. Mein Strahlen war verblasst und stattdessen einem fassungslosen Staunen oder wohl eher Schrecken gewichen.
Es sah alles irgendwie ein wenig verwahrlost aus. Nicht total heruntergekommen- aber dennoch sah es nicht wie die lebendige, aufgeräumte Stadt aus, die ich in Erinnerung hatte. Es herrschte zwar geschäftiges Treiben auf den Straßen, aber es war nicht bunt und fröhlich, stattdessen spürte ich immer wieder unterdrückte Wut und Angst. Nur einige Kinder ließen sich von alldem nicht beeinflussen und spielten auf der Straße. Mit was sie spielten, ließ sich allerdings nicht genau sagen und um ehrlich zu sein wollte ich lieber auch nicht herausfinden, was dieser undefinierbare Gegenstand war.
Ich würde jetzt nicht sagen, dass die Grundstimmung durchgehend negativ war, aber dennoch. Wenn ich ihr Leben mit meinem verglich, wirkte dieses hier aufregender, aber gleichzeitig auch unsicherer und beängstigender. Was war aus all den lachenden Menschen geworden, die ich in Erinnerung hatte?
Ich folgte dem Weg zu Mics Wohnung, welchen ich mir eingeprägt hatte und sperrte diese mit dem Wohnungsschlüssel auf. Sie war eng, klein und nur mit dem Allernötigsten ausgestattet. Die Wohnung reichte wohl gerade für einen einzelnen Menschen aus. Insgesamt durfte sie inklusive Badezimmer, Schlafzimmer und Küche wohl kleiner sein als mein Schlafzimmer Zuhause.
Und in diesem Moment begriff ich endlich, warum Mic sofort dazu bereit gewesen war mit mir zu tauschen. Während ich durch die Straßen gegangen war, hatte ich es nicht wirklich realisieren wollen, aber diese Wohnung brachte mir die letzte fehlende Erkenntnis.
Das Leben hier in der Stadt war anders als ich es mir vorgestellt hatte.
Und dennoch fühlte ich keine Enttäuschung.
Das war der Preis für die kurzzeitige Freiheit und ich war bereit diesen Preis zu zahlen.
Ich durchsuchte die Wohnung nach einem guten Versteck für das Geld und fand dieses schließlich unter einer losen Bodenplatte. Nur einen einzigen kleinen Schein steckte ich wieder ein- Geld konnte ich bestimmt gebrauchen, spätestens wenn ich Hunger verspürte. Auch das Foto ließ ich dort. Danach beschloss ich noch ein wenig die Stadt zu erkunden.
Den ganzen Tag streunte ich durch die Straßen und ich musste zugeben: Ich genoss es. Auch wenn die Stadt ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt hatte und man den Menschen ansah, dass sie wirklich nur mit dem Nötigsten lebten, liebte ich bereits jetzt dieses Leben und diese Freiheit. Ich hatte keinerlei Verpflichtungen mehr.
Es wurde immer später und später, trotzdem kehrte ich nicht zu der Wohnung zurück. Inzwischen kannte ich die meisten Gassen und Straßen dieser Stadt und fühlte mich beinahe schon zuhause. Wie es wohl Mic ging? Er hatte sich den ganzen Tag noch nicht bei mir gemeldet, vermutlich genoss er, wie ich, einfach sein neues Leben und kam gar nicht dazu über mich nachzudenken. Gerade war ja auch bei mir das erste Mal, dass ich ihm überhaupt eine Sekunde meiner Gedanken schenkte und das war rasch wieder vergessen, als ich etwas Neues, Ungewöhnliches entdeckte.
Inzwischen waren die Gassen- zumindest die kleinen, schmalen, in welchen ich mich gerade aufhielt, weitestgehend leer. Ich wusste nicht genau, wie spät es war, aber die Sonne war bereits vor langer Zeit untergegangen.
Ich beschloss zumindest für heute in die Wohnung zurückzukehren. Mic hatte seinen Posten als Nachtwache gekündigt, sodass ich erstmal meine Ruhe hatte. Ich konnte aber jederzeit wieder einsteigen wie er meinteund vielleicht würde ich das in den nächsten Tagen tatsächlich irgendwann machen, um ein paar neue Aspekte des Lebens hier kennenzulernen.
Ich befand mich nur noch wenige Straßen von der Wohnung entfernt, als ich Schritte- abgesehen von meinen- irgendwo hinter mir, vernahm.
"Stehen bleiben!", ertönte eine barsche Stimme.
Ich bekam Angst. War das ein Mann meines Vaters, der mich erkannt hatte?
Adrenalin durchströmte meinen Körper und ich rannte einfach nur los ohne darüber nachzudenken. Ich hetzte durch die Gassen und versuchte meine Verfolger- ich vernahm mehrere unterschiedliche Schritte- loszuwerden, aber sie blieben mir die ganze Zeit über dicht auf den Fersen. Sie hatten einen entscheidenden Vorteil: Sie kannte sich hier aus. Sie waren hier aufgewachsen. Zwar hatte ich die Stadt ebenfalls im Laufe des Tages kennengelernt und ich wusste, wo ich mich befand, aber die Männer wussten höchstwahrscheinlich genau, welche Wege sie nehmen mussten um mir den Weg abzuschneiden.
Mit einem Mal wurde ich zu Boden gestoßen. Ich konnte mich nicht mehr auffangen und landete unsanft auf dem steinigen Grund. Zwei starke Hände rissen mich wieder nach oben und verdrehten meine Arme auf den Rücken. "Er muss zu den Rebellen gehören!", meinte eine Stimme. "Lass uns ihn erstmal mitnehmen und einsperren. Tadzio kann ihn morgen verhören!", sagte der Mann, der mir vorher befohlen hatte, stehen zu bleiben.
Ich versuchte mich zu befreien, aber meine Wärter- sie hielten mich zu zweit fest- waren zu stark, also beschloss ich vorerst ohne Gegenwehr mitzukommen. Dummerweise hatte ich nicht nur das Foto, sondern auch mein Messer in der Wohnung zurückgelassen- diesen Fehler würde ich so bald bestimmt nicht mehr begehen.
Aber vielleicht ließ sich das Ganze ja auch friedlich regeln. Sie schienen mich mit irgendjemanden zu verwechseln- wüssten sie, wer ich wirklich war, hätten sie mich anders behandelt.
Morgen würde ich sie bestimmt davon überzeugen können, dass ich keiner dieser "Rebellen" war. Auch wenn ich notfalls meine Tarnung dazu aufgeben musste, hauptsache ich überstand das Ganze ohne weitere Schwierigkeiten.
Ich wurde durch die Gassen geführt, bis wir vor einem hohen, dunklen Turm ankamen.
Wenig später knallte eine vergitterte Tür zu und ich ließ mich auf dem Boden der Zelle nieder. Das Bett wurde bereits von einem Jungen, der auch etwa in meinem Alter, vielleicht etwas älter, war, belegt. Dieser schien zu schlafen, also lehnte ich mich einfach nur gegen die Mauer und wartete ab. Ich war nicht müde- für heute hatte ich meine drei Stunden bereits geschlafen. Es würde wohl eine lange Nacht werden.
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Lynx&Lion - The Rebellion
Teen FictionBand 1 der Lynx&Lion- Reihe ________________________ Eigentlich ist die Welt der Wissenschaft schon sehr fortgeschritten, doch davon bekommen nur die Wenigsten etwas mit. Die Reichen werden immer reicher und leben ein Leben im Luxus- ohne je Hunger...