Onish 2-12 Der erste Schnee

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Der erste Schnee

Raill klopft seinem Pferd aufmunternd den Hals und lässt es an dieser flachen Stelle einen Moment verschnaufen. Der Himmel ist mit grauen Wolken verhangen und es regnet immer wieder in unangenehm kalten Schauern. Wenn ihre Karte stimmt, sind sie auf dem richtigen Weg, aber immer noch einige Tage von der Passhöhe entfernt. Raill blickt zu Steim zurück, der ihm in kurzem Abstand folgt, die Kapuze seines schweren Reisemantels tief ins Gesicht gezogen.
«Alles in Ordnung?»
Der eisige Wind reißt Raill die Worte von den Lippen, sein Begleiter bemerkt nicht einmal, dass er etwas gesagt hat. Er wartet deshalb geduldig, bis Steim und sein Hengst die schwierige Passage hinter sich haben. Endlich hält sein Freund neben ihm an. Sein sonst unverwüstliches Lachen wirkt heute etwas gequält.
«Das ist eine Kälte, die nicht einmal der beste Grog meines Vaters vertreiben könnte.»
«Hmm, der Grog deines Vaters wäre mir jetzt auf jeden Fall willkommen. Weißt du noch, wie wir das letzte Mal einen Kessel davon auf die Mauer brachten?»
Natürlich erinnert sich Steim an dieses Abenteuer. Das war noch bevor er und Raill zur Stadtwache beziehungsweise zu den königlichen Truppen eingezogen wurden.
«Ja, damals, als wir A'shei zur Flucht aus Penira verhalfen. Das war ein tolles Ablenkungsmanöver.»
«Das war der gleiche Abend, an dem Hamain und Fjenis sich verliebten. Und damit eigentlich der Grund, warum wir nun in dieser Kälte über einen Gebirgspass nach Eshte klettern.»
«Wenn du es so sehen willst, hast du bestimmt recht. Aber du wolltest ja unbedingt deine Schwester besuchen, also beklage dich nicht. Du hättest den Auftrag auch ablehnen können.»
Raill zuckt die Schultern. Er ist selten um eine Antwort verlegen. Aber wie soll er seinem Freund erklären, dass er seinem Kommandanten diese Bitte einfach nicht abschlagen konnte? Der oberste Heerführer von Kelèn ist niemand, den ein junger Gardist enttäuschen möchte. Aber Steim versteht. Die beiden haben zusammen schon zu viele Streiche ausgeheckt. Es wird gut sein, ihren gemeinsamen Freund Fjenis, den dritten im Bunde, wiederzusehen. Dafür lohnt es sich sogar, diesen Berg zu überqueren.
Wortlos übernimmt Raill wieder die Führung. Sie sind bereits seit zwei Handvoll Tagen unterwegs und haben den Pass von Mirai, den Lichterpass, noch vor sich. Bisher verlief ihre Reise ziemlich ereignislos. Aber nun beginnt der harte Teil des Weges, ganz abgesehen davon, dass diese Wolken nach Schnee aussehen. Steim spricht aus, was seinem Freund durch den Kopf geht.
«Es riecht nach Schnee. Ich glaube, der Winter hat uns eingeholt.»
Bevor Raill etwas erwidern kann, wird er von einem winzigen Schneestern abgelenkt, der auf dem groben Wollstoff seiner Jacke kleben bleibt. Der junge Mann beobachtet fasziniert, wie die erste Schneeflocke dieses Winters auf seinem Ärmel schmilzt und blickt dann zum Himmel hoch. Der beißende Nordwind wirbelt nun unablässig weitere weiße Flocken heran. Steim hat recht, der Winter hat begonnen.

~ ~ ~

Kej öffnet verschlafen die Augen und blinzelt in die flackernden Flammen eines kleinen Feuers. Sie ist fest in eine Decke eingewickelt und ihr Kopf ruht auf dem Sattel ihres Pferdes, aber sie kann sich nicht erinnern, wie sie an diesen Lagerplatz gekommen ist. Orientierungslos blickt sie sich um. Über ihr erstreckt sich das Felsdach einer Höhle, vom Ruß des Feuers geschwärzt, dessen Rauch ihre Atemwege reizt. Die Höhle ist nur klein und am hinteren Ende, wo Kej liegt, sehr niedrig. Auf der anderen Seite des Feuers öffnet sich der geschützte Raum in wenigen Schritten Entfernung gegen einen grau verhangenen Himmel. Kej erkennt zwar beim Höhleneingang Onishs Gepäck und Sattel, der Schattenwandler selber ist aber nirgends zu sehen. Auch von Talisha fehlt jede Spur. Sie lässt den Kopf zurück auf den Sattel sinken und versucht, sich an den letzten Abend zu erinnern. Sie waren im Regen unterwegs als ihre Stute Hama, die bereits seit einiger Zeit Zeichen der Ermüdung zeigte, plötzlich ausrutschte. Kej konnte sich aber im Sattel halten und wollte sich gerade zu Onish umdrehen, um ihn vor der rutschigen Stelle zu warnen, als Hama ein zweites Mal stolperte und dann ... Kej versucht erschrocken, sich aufzurichten. Die Bewegung verursacht einen stechenden Schmerz in ihrem linken Bein. Stöhnend lässt sie sich wieder auf ihr Lager zurückfallen. Sie muss vom Pferd gestürzt sein, aber sie kann sich nicht mehr an den Sturz erinnern, auch nicht daran, wie sie in diese Höhle gelangte. Wo Onish wohl steckt? Ob Hama unverletzt ist? Vorsichtig richtet sie sich ein zweites Mal auf, darauf bedacht, ihr linkes Bein nicht zu bewegen. Als sie die Decke beiseite zieht, um es genauer zu untersuchen, stellt sie fest, dass es mit mehreren zugeschnittenen Holzstücken sorgfältig geschient und ordentlich verbunden ist. Nun versteht sie die Schmerzen: Sie hat sich bei dem Sturz das Bein gebrochen. Vergeblich versucht sie, die Tränen zu unterdrücken, die ihr bei dieser Erkenntnis in die Augen steigen. Es sind weniger Tränen des Schmerzes, als der Wut. Wie konnte sie nur so ungeschickt sein, vom Pferd zu fallen? Sie müssen doch dringend den Berg Shatosh erreichen, um die Dracheneier zu suchen. Nun stellt sie mit ihrer Ungeschicktheit alles in Frage. Enttäuscht rollt sie sich unter ihrer Decke zusammen, darauf bedacht, das verletzte Bein nicht zu belasten. Wenn sie es nicht bewegt, ist der Schmerz beinahe erträglich. Vielleicht kann sie ja trotzdem reiten? Wütend wischt sie sich die Tränen aus den Augen und setzt sich vorsichtig wieder auf und atmet mehrmals tief durch. So schlimm sind die Schmerzen nicht. Bestimmt kann sie sogar aufstehen, wenn sie sich Mühe gibt. Sie will auf keinen Fall Schuld sein, dass Onish seinen Verpflichtungen nicht nachkommen kann. Sie wird jetzt versuchen, aufzustehen, ganz langsam und vorsichtig...
Bevor Kej ihren Plan in die Tat umsetzen kann, verdunkelt ein Schatten den Eingang der Höhle. Mit einem besorgten Aufschrei kniet sich Onish an ihrer Seite hin.
«Kej, du bist wach? Wie geht es dir? Verzeih, dass ich nicht hier war, als du erwacht bist. Ich wollte uns etwas zu essen besorgen.»
Mit schmerzverzerrtem Gesicht lässt sich Kej zurücksinken, für den Moment ganz froh darüber, noch nicht aufstehen zu müssen. Hungrig bemerkt sie, dass Onish achtlos mehrere Gebirgshühner neben die Feuerstelle fallen ließ.
«Du hast viel Erfolg gehabt bei der Jagd.»
«Ja, ich war aber länger weg als geplant. Bist du schon lange wach?»
«Nein, gerade lange genug, um zu merken, dass ich offenbar vom Pferd gefallen bin und mein Bein gebrochen habe.»
Ihre Stimme klingt bitter. Etwas schuldbewusst versucht sie, den Eindruck zu korrigieren.
«Verzeih, ich sollte dir danken, dass du mich zusammengeflickt und hierher gebracht hast.»
«Deine Hama hat dich hergetragen, nachdem Talisha die Höhle gefunden hatte. Für die Pferde ist sie leider zu klein. Aber wir haben für sie wenigstens einen windgeschützten Platz gefunden, etwas weiter hangaufwärts. Es gibt da sogar einige große Tannen, die sie vor dem Regen schützen. Ich war vorhin bei ihnen und habe ihnen neues Futter gebracht. Es scheint ihnen gut zu gehen.»
«Und wo steckt Talisha?»
«Die ist unterwegs zum Shatosh. Sie hat mir mit deiner Verletzung geholfen und sich anschließend auf den Weg gemacht. Ich hoffe, dass sie Ranoz bald findet und ihm bei seiner Suche helfen kann.»
«Du hättest mit ihr gehen sollen. Schließlich war es Talishas Aufgabe, dich zum Shatosh zu bringen.»
«Es war ihre Aufgabe, uns beide dorthin zu bringen. Aber du kannst im Moment nicht reiten und ich werde dich ganz bestimmt nicht hier allein lassen.»
Bevor Kej eine trotzige Antwort geben kann, wendet sich Onish dem fast herabgebrannten Feuer zu und legt etwas Holz nach. Dann hebt er seine Gebirgshühner auf.
«Darf ich deinen Topf benutzen? Ich glaube, dir würde etwas Hühnersuppe bestimmt guttun.»
Resigniert verzichtet Kej darauf, aufzubegehren. Onish wird ohnehin nicht auf ihre Einwände eingehen. Außerdem hat sie wirklich Hunger und fühlt sich schon wieder müde. Mit schweren Augenlidern beobachtet sie, wie Onish Wasser für Suppe aufsetzt und eines der Hühner rupft.
Als sie zum nächsten Mal aufwacht, riecht es in der kleinen Höhle appetitlich nach Hühnersuppe. Kej reibt sich den Schlaf aus den Augen. Der Himmel vor dem Höhleneingang ist inzwischen beinahe dunkel. Neben der Feuerstelle ist ein neuer Holzvorrat aufgestapelt und Onish geht mit gesenktem Kopf einer Arbeit nach, die Kej nicht erkennen kann.
«Was machst du da?»
«Medizin, für dein Bein.»
«Oh.»
Mehr fällt Kej dazu im Moment nicht ein. Sie ist dem Schattenwandler dankbar, dass er sich um ihre Verletzung kümmert. Aber gleichzeitig ist sie immer noch wütend, dass sie sich überhaupt in diese Situation gebracht hat. Onish hebt den Kopf und lächelt ihr im Feuerschein zu. Er scheint ihre Gedanken lesen zu können.
«Hör zu, was passiert ist, ist passiert. Es hilft niemandem, wenn du dir darüber nun noch Gedanken machst. Das wichtigste ist, dass du nun rasch wieder gesund wirst. Ich glaube, dass ich dein Bein richtig einrichten konnte. Und weil du bewusstlos warst, habe ich auch ziemlich viel Schattenmagie verwendet, um die Heilung zu beschleunigen. Ich denke, dass du deshalb jetzt sehr müde bist. Ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich.»
«Weshalb sollte ich sauer sein?»
«Wegen der Magie. Ich dachte, du hast vielleicht etwas dagegen.»
Kej lässt seufzend den Kopf zurück auf den Sattel fallen und starrt nachdenklich an die Decke.
«Nein, ich habe nichts dagegen. Ich erinnere mich noch, wie mein Bruder Ginuc seinen Arm brach. Es dauerte ewig, bis er ihn wieder benutzen konnte. Ich habe keine Lust, den Winter hier in dieser Höhle zu verbringen. Dann lieber eine magische Behandlung.»
Onish kann ein Grinsen nicht unterdrücken, während er den Suppentopf vom Feuer nimmt. Kej grinst zurück. Sie weiß selbst, dass sie im letzten Sommer noch anders geredet hätte. Aber seitdem ist soviel geschehen ...

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt