Nach dem Sturm
Der Shalen geht nervös in seinem großzügigen Zimmer auf und ab. Seine Robe ist nur flüchtig übergeworfen und sein Haar unordentlich zerzaust. Aber er erwartet heute keine Besucher und seine Gedanken sind mit wesentlicheren Dingen beschäftigt als mit seinem Aussehen. Seit Tagen versucht er, die verlorenen Eier der Shahraní zu lokalisieren, aber bisher ohne jeden Erfolg. Dabei war er sich nach dem Mittagsritual am Neumondtag so sicher, die Erweckung erfolgreich eingeleitet zu haben. Er interpretierte das Erdbeben als klaren Hinweis auf seinen Erfolg. Damals, vom Blutverlust fast bis zur Ohnmacht geschwächt, konnte er mit seinem magischen Sinn die fünf Dracheneier deutlich wahrnehmen. Wie pulsierende Feuerkugeln brannten sie sich in sein Bewusstsein. Aber bereits wenig später verblasste das Bild allmählich und er hatte Mühe, sich seinen gläubigen Gefolgsleuten gegenüber die eigene Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. Warum nur notierte er sich damals nicht gleich die Richtung und Distanz, in welcher die Eier zu finden sind? Gleichzeitig mit dem Nachlassen der magischen Wahrnehmung erlitt er einen körperlichen Schwächeanfall. Seine verstörten Anhänger mussten ihn zurück nach Penira tragen. Glücklicherweise schieben sie dieses Vorkommnis auf den ungewöhnlich hohen Blutverlust durch sein großzügiges Opfer im Namen des Feuerkultes.
Als der Shalen endlich in seinen Gemächern wieder zu sich kam, war jede Verbindung mit den Eiern der Shahraní endgültig abgerissen. Seither bemüht er sich verzweifelt, den unterbrochenen Kontakt wiederherzustellen. Eigentlich hätte das Blutopfer ihn mit den ungeborenen Drachen untrennbar verbinden müssen. Zumindest behaupten das die alten Schriften der Feuermagier. Nachdenklich betrachtet er die fast verheilte Wunde an seinem Arm. Ob er versuchen soll, sie wieder zu öffnen, um den magischen Kontakt wiederherzustellen? Er zögert, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Blutmagie ist gefährlich, und wenn sie nicht im richtigen Rahmen stattfindet, kann das Ritual dem Magier mehr Schaden als Nutzen zufügen. Er wird damit deshalb mindestens bis zum nächsten Neumond warten müssen.
Mit einem Seufzen tritt Hajtash zurück an seinen Arbeitstisch, der mit zahlreichen verblassten, aber eng beschriebenen Pergamentblättern übersät ist. Sorgfältig ordnet er sie in verschiedene Stapel. Er lässt sich Zeit damit, es ist wichtig, dass er nichts übersieht. Er wird heute die Schriften ein weiteres Mal vollständig durcharbeiten. Irgendwo in diesen Blättern muss es einen Hinweis auf den Grund seines Versagens geben. Seine Aufgabe ist es nun, herauszufinden, welcher Fehler ihm bei dem Ritual unterlief.
Obwohl nicht zu befürchten ist, dass die jungen Drachen bereits in den nächsten Monden schlüpfen werden, fühlt Hajtash sich unbehaglich, solange er die Eier nicht direkt unter Kontrolle hat. Deshalb spielt er weiter seine Rolle für die Anhänger des Kultes, führt jeden Morgen das Ritual zum Tagesanbruch durch und besucht ab und zu die Königin und den kranken Thronfolger. Inzwischen versteht er es meisterhaft, Fanlaitas Hoffnung zu nähren, ohne Mirim wirklich von seiner Krankheit zu befreien. Beim Gedanken an diese Leistung spielt ein zufriedenes Lächeln um seine Lippen.
Über die Entwicklung seines neu organisierten Feuerkultes kann er sich ebenfalls nicht beklagen. Seine engsten Vertrauten und Schüler glauben bedingungslos an die Macht des Feuers und, was noch wichtiger ist, ihres Shalen. In der breiten Bevölkerung Peniras findet der Kult zudem täglich neue Anhänger. Inzwischen ergreifen einige davon offen Partei für die Macht des Feuerpriesters und stellen sich damit gegen das Königshaus Diun. Diese an sich erfreuliche Entwicklung setzte leider etwas zu früh und unkontrolliert ein. Wenn er nur wüsste, wo diese Dracheneier liegen... Sie sind für das Gelingen seines Plans von entscheidender Bedeutung. Wenn er sie nicht bald findet, steht zu befürchten, dass die Rebellion beginnt, bevor all seine Vorbereitungen abgeschlossen und seine Spielsteine richtig platziert sind.~ ~ ~
Fanlaita steht am Fenster ihrer Gemächer und blickt hinunter in den königlichen Garten. So spät im Jahr wirkt er trostlos, die meisten der farbenprächtigen Blumen sind verblüht und das lebendige Grün wird allmählich von traurigem Braun abgelöst. Die meisten Bäume haben nach einem prachtvollen herbstlichen Farbenbouquet nun ihre Blätter verloren. Während sie zusieht, löst sich ein einsames verwelktes Blatt von einem Ast ihres Lieblingsbaums, eines mächtigen Ahorns, und taumelt betrunken zu Boden. Die Königin folgt dem Blatt mit den Augen. Sie empfindet Mitleid mit dem Blatt, dem Baum und dem Garten im Allgemeinen. Beinahe fühlt sie sich wie das Ahornblatt, müde, verwelkt und ausgelaugt. Die Krankheit ihres Sohnes kostet die Königin immense Kraft. Immer wieder versucht sie, neue Hoffnung zu schöpfen, mit neuer Energie weiterzukämpfen. Jedesmal, wenn es Mirim etwas besser geht, glaubt sie verzweifelt an seine baldige Genesung, nur um wenige Tage später erkennen zu müssen, dass die Hoffnung einmal mehr vergeblich war. Inzwischen ist sie sogar soweit, dass sie an dem Heiler zu zweifeln beginnt, der in den letzten Monden der Träger all ihrer Hoffnungen war. Aber im Rückblick muss sie sich eingestehen, dass es Mirim inzwischen nur unwesentlich besser geht. Die wenigen Momente, in denen er bei klarem Bewusstsein ist, machen ihr immer wieder deutlich, was der Junge alles verpasst. Es bricht ihr jedesmal das Herz, wenn er nach Dingen und Personen fragt, die ihm früher wichtig waren. Nur zu gern würde sie ihm erlauben, mit Talai zu spielen oder der Garde beim Exerzieren zuzusehen. Aber sie weiß, dass er viel zu schwach ist, um sein Bett zu verlassen. Deshalb erzählt sie ihm Geschichten, wann immer er bereit ist, zuzuhören. Manchmal sitzt Talai dabei, und dann ist es fast, als wären sie eine normale Familie. Fanlaita liebt es, wenn ihre beiden Kinder mit großen Augen an ihren Lippen hängen, gespannt auf das Ende einer Erzählung. In solchen Momenten könnte sie fast vergessen, was ihren Sohn belastet. Aber wenn er sich wenig später wieder in Fieberqualen windet, wünscht sie sich nichts sehnlicher, als ihm irgendwie Linderung verschaffen zu können.
Die Königin streicht sich müde das Haar aus dem Gesicht und wendet sich von ihrem Fenster ab. Es ist Zeit, an Mirims Bett zurückzukehren. Er beginnt wieder, im Schlaf zu stöhnen und sich unruhig hin und her zu wälzen. Früher pflegte er in solchen Momenten auch zu schreien. Das hat in letzter Zeit nachgelassen. Fanlaita ist sich nicht sicher, ob das ein Zeichen der Besserung oder seiner zunehmenden Erschöpfung ist. Sie befeuchtet ein Tuch, um ihrem Sohn die glühende Stirn zu kühlen und ihm zumindest kurzfristig etwas Erleichterung zu bringen. Bereits nach wenigen Momenten ist das Tuch heiß und sie muss es wieder auswaschen. Ob sie es noch einmal mit der Salbe versuchen soll, die einer der zahllosen Heiler ihr gegeben hat, die versuchten, Mirim zu helfen? Hajtash nennt sie allesamt Scharlatane und behauptet, einzig seine Magie könne dem Thronfolger helfen. Er verlangt von der Königin bedingungslosen Glauben. Zu Beginn war Fanlaita gerne bereit, auf ihn zu hören. Die ersten Zeichen der Besserung bestärkten sie in ihrem Glauben. Aber in letzter Zeit wird sie von Zweifeln geplagt. Wenn der Shalen tatsächlich über eine solch mächtige Magie verfügt, müsste es doch Mirim inzwischen dauerhaft besser gehen? Sie weiss auch, dass Pentim, ihr Gemahl, nicht viel von Hajtash hält. Er weicht ihren Fragen allerdings geschickt immer wieder aus, wenn sie auf den Shalen zu sprechen kommt. Deshalb weiß sie nicht, weshalb der König dem Magier gegenüber so misstrauisch ist. Ihr Vater Ginadim rät ihr, Hajtash zu vertrauen und sich nicht um die Meinung des Königs zu kümmern. Allerdings zweifelt Fanlaita seit seinem letztem Besuch an den Motiven ihres Vaters. Er ging soweit, Pentim als unfähig und ungeeignet für die Königswürde zu bezeichnen. Zum ersten Mal in ihrem Leben befürchtet Fanlaita, dass ihr lebenslanges Vorbild vielleicht Unrecht hat. Alles, was sie von Pentim inzwischen weiß, deutet darauf hin, dass er absolut ehrenhaft ist und versucht, seinem Volk ein guter und gerechter König zu sein. Er ist zudem ein liebevoller Vater und Ehemann.
Die Königin befeuchtet ein neues Tuch. Während sie weiter versucht, ihrem Sohn Linderung zu bringen, nimmt sie sich fest vor, Pentim noch heute auf Hajtash und sein Verhältnis zu Ginadim anzusprechen. Wenn ihre Befürchtungen wahr sind, ist es höchste Zeit, sich zwischen ihrem Vater und ihrem Ehemann zu entscheiden.
DU LIEST GERADE
Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...