Onish 2-2 Sandsturm

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Sandsturm

Onish hält sich eine Hand vor Mund und Nase, bevor er über die Schulter zurückblickt. Der Nordostwind wirbelt inzwischen so viel Staub auf, dass er trotz der Vorsichtsmaßnahme sofort husten muss. Schnell wendet er das Gesicht wieder ab und reibt sich den Sand aus den Augen. Wenn der Wind weiter so zunimmt, brauchen sie dringend einen geschützten Platz. Suchend mustert er die Landschaft voraus. Kej reitet verbissen an seiner Seite, den Schal fest um ihr Gesicht geschlungen und den Hut tief in die Augen gedrückt. Onish macht sich mehr Sorge um die Pferde, die inzwischen von einem langen Tagesritt erschöpft sind und genauso mit dem Sand zu kämpfen haben. Endlich erkennt er etwas abseits des Wegs in den Staubwirbeln eine kleine Felsgruppe. Er versucht, Kej darauf aufmerksam zu machen, aber sie reagiert auf seinen heiseren Zuruf nicht. Der Wind reißt ihm auch beim zweiten Versuch die Worte von den Lippen. Onish drängt deshalb sein Pferd näher an Kejs braune Stute heran und greift ihr in die Zügel. Erschrocken blickt seine Begleiterin hoch. Als ihr Blick Onishs ausgestrecktem Finger folgt, zögert sie aber keinen Augenblick. Sie lenkt ihr Pferd geschickt in Richtung der Felsen. Onish kostet es mehr Mühe, seinen gescheckten Hengst zu dem Richtungswechsel zu bewegen. Es ist, als würde das Tier so kurz vor dem Ziel alle Kraft verlassen. Es stolpert und der junge Schattenwandler kann sich nur knapp im Sattel halten. Zitternd bleibt das Pferd stehen. Kej hat inzwischen die Felsen erreicht und blickt sich suchend nach Onish um. Dieser lässt sich aus dem Sattel gleiten und führt sein Tier die letzte Strecke am Zügel. Der Wind reißt ihn fast von den Beinen. Kej ist inzwischen im Windschatten eines großen Felsblocks abgestiegen. Hier gibt es tatsächlich eine Stelle, wo Wind und Sand erträglich sind. Am Fuß der Felsen wächst sogar Gras und einige verkrüppelte Büsche drängen sich in die Spalten zwischen den Steinen, ein sicheres Zeichen, dass es hier irgendwo auch Wasser gibt. Die Nirahn nimmt ihrem erschöpften Pferd den Sattel und das Gepäck ab und beginnt sofort, es abzureiben. Onish folgt wortlos ihrem Beispiel. Seine Kehle ist immer noch rau von dem Versuch, sich durch den Wind verständlich zu machen. Als die Pferde sich endlich beruhigen, füllt Kej ihren Hut mit Wasser aus ihrer Lederflasche und gibt ihnen daraus zu trinken. Viel ist es nicht, und sie müssen bald wieder Wasser finden, um ihren Vorrat zu ergänzen. Am Weg durch die Steppe von Lellini gibt es genügend Wasserstellen, aber Onish ist sich nicht sicher, ob sie in dem aufkommenden Sandsturm heute nicht eine verpasst haben. Sie sind bereits seit dem frühen Morgen unterwegs, ohne anderen Reisenden begegnet zu sein. Das ist ungewöhnlich, denn die Straße von Lelai nach Geai wird verhältnismäßig rege genutzt. Ob sie vom Weg abgekommen sind, ohne es zu bemerken? Onish ist sich zwar ziemlich sicher, dass sie noch vor kurzem verwischten Wagenspuren folgten. Vielleicht wussten die anderen Reisenden einfach das Wetter besser zu deuten und mieden den bevorstehenden Sandsturm.

Nachdem die Pferde versorgt sind, begibt sich der Schattenwandler auf einen Erkundunsgang. Die Felsgruppe ist größer, als es zuerst den Anschein hatte. Sie bietet deshalb guten Schutz vor dem Wind, der immer noch zunimmt. Onish weiß von Delani, dass solche Nordoststürme manchmal tagelang das Reisen im Hinterland von Lellini verunmöglichen. Zum Glück treten sie eher selten auf. Trotzdem sind sie mit ein Grund, dass der Wasserweg auf dem Haon bei vielen Reisenden beliebter ist als der Landweg. Ein gutes Schiff kann den Wind nutzen, um schneller voranzukommen. Allerdings ist die Reise flussaufwärts in jedem Fall langsamer als jene flussabwärts und wenn alles gut geht, kann ein Reiter Geai schneller erreichen als jedes Schiff. Deshalb sind Onish und Kej nun zu Pferd unterwegs. Die Tiere sind ein Geschenk von Jakrim und Tòmani, der zwei besonders ausdauernde und zuverlässige aussuchte. Onish ist froh darüber, denn er ist nach wie vor kein geübter Reiter. Kej meistert diese Kunst mit deutlich mehr Selbstvertrauen und Eleganz als der junge Schattenwandler. Er kann es sich manchmal nicht verkneifen, etwas neidisch zu sein.
Onish erreicht eine Stelle, wo der Wind zwischen zwei Felsen wie durch eine Düse kanalisiert wird. Durch die Staubwirbel hindurch erkennt er etwas voraus eine Gruppe von Bäumen. Dort muss es Wasser geben. Kurzentschlossen holt er tief Atem und kämpft sich durch den Sand weiter, in den Schutz der nächsten Felsgruppe. Tatsächlich, hier liegt ein gut geschützter Lagerplatz. Alte Feuerstellen zeugen davon, dass er oft von Reisenden benutzt wird. Und die Bäume stehen direkt an einem natürlichen Wasserloch. Zufrieden macht sich Onish auf den Rückweg, um Kej und die Pferde hierherzubringen.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt