Onish 2-17 Auf der Burg

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Auf der Burg

Als Raill und Steim endlich zum ersten Mal aus der Entfernung einen guten Blick auf die Burg Silita-Suan haben, halten sie ihre Pferde an, um sich gegenseitig anzugrinsen. Sie haben es geschafft, vor ihnen liegt die legendäre Stammburg der Königinnen der Nacht.
Silita-Suan wurde auf einem Felssporn mit steil abfallenden Flanken erbaut. Die mächtigen Mauern scheinen mit dem grauen Kalksteinfelsen fest verwachsen zu sein. Zahlreiche Türme überragen die Außenmauer, die oben in einem Zinnenkranz abschließt. Weiße Schneekappen auf den Dächern funkeln im Licht der Sonne.
Schließlich treibt Raill sein Pferd wieder an. Der Weg zur Burg führt von hier aus über ein schmales Felsband entlang einer Steilwand. Stellenweise wurde er von Hand aus dem fast senkrechten Fels herausgearbeitet. Einige schon fast wieder zugeschneite Spuren weisen den beiden Reitern den Weg. Während des Winters scheinen Besucher auf dieser abgelegenen Burg selten zu sein. Oft ist der Weg sehr schmal und rutschig von Schnee und Eis.
Raill ist erleichtert, als sie endlich um eine Biegung kommen und vor ihnen unvermittelt ein tiefer Graben auftaucht. Dahinter liegt die hohe, mit einem mächtigen Tor versehene Außenmauer. Die uralte hölzerne Zugbrücke ist hochgezogen. Die Bewohner der Burg scheinen heute keine Besucher zu erwarten. Dabei ist die Mitte des Tages bereits vorüber. Auf der Mauer ist niemand zu erkennen. Etwas verunsichert blicken sich die beiden Männer an. Wie sollen sie sich den Burgbewohnern bemerkbar machen?
Raill zieht die Handschuhe aus, um über zwei Finger einen schrillen Pfiff auszustoßen, als sich auf der Mauer etwas bewegt.
«Ho! Wer macht sich mitten im Winter die Mühe, uns hier auf Silita-Suan zu besuchen?»
Raill und Steim blicken sich an. Die Begrüßung klingt freundlich genug, auch wenn der Mann mit einem breiten Eshte-Akzent spricht, mit rollendem R und verschluckten Wortenden. Raill richtet sich im Sattel auf.
«Ich bin Raill-isha-Gelish und dies ist mein Freund Steim aus Penira. Wir möchten meine Schwester Hamain besuchen.»
«Ihr kommt mitten im Winter aus Penira für einen Besuch? Das ist eine anstrengende Reise. Wartet einen Moment, ich lasse Hamain holen!»
Damit ist der Burgwächter auch schon wieder verschwunden. Raill streift sich die Handschuhe wieder über und zuckt ratlos die Schultern als Antwort auf Steims ungestellte Frage. Woher soll er wissen, ob dieses Verhalten in Eshte üblich ist? Es ist das erste Mal, dass er Hamain besucht. Er muss zugeben, die Burg wirkt ziemlich beeindruckend. Eigentlich hätte er auf der Mauer einer solchen Anlage zumindest eine Kompanie Wachen erwartet, nicht nur einen einzelnen Krieger. Zudem fragt er sich immer noch, warum sich Silàn und A'shei in so einem abgelegen Winkel verkriechen. Aber das ist vielleicht eines der Dinge, die sie nun endlich erfahren werden. Auf jeden Fall ließ Hamain in ihren Briefen niemals eine Klage über ihre neue Heimat verlauten.
Das Warten wird lang und jetzt, wo sie sich nicht mehr bewegen, dringt die Kälte langsam durch ihre dicke Winterkleidung. Die Pferde stampfen unruhig und Steim reibt sich kräftig die Arme, um die Blutzirkulation wieder anzuregen.
«Wenn sie uns hier noch lange warten lassen, kann deine Schwester uns gleich als gefrorene Statuen im Burghof aufstellen lassen.»
«Ich bin mir nicht sicher, wieviele Personen überhaupt hier leben. Laut Hamains Briefen können es nicht allzu viele sein. Aber ich hätte trotzdem nichts dagegen, wenn sie diese Brücke gelegentlich herunterlassen würden.»
Wie als Antwort auf Raills Wunsch zerreißt plötzlich ein lautes Knarren die winterliche Stille, das gleich darauf von einem schrillen Kreischen abgelöst wird. Fast unmerklich langsam beginnt sich die massive Zugbrücke zu senken. Eine ganze Weile und viele gequälte Geräusche später setzt der schwere Endbalken der Brücke auf seinem Widerlager auf. Die plötzlich einsetzende Ruhe ist fast unheimlich. Dann öffnet sich beinahe geräuschlos das schwere, eisenbeschlagene Burgtor.
Steim lässt seinem Freund den Vortritt. Schließlich ist er es, der in diesem abgelegenen Winkel Verwandtschaft hat. Die Hufschläge der Pferde bringen das kalte Holz der Brücke zum Hallen. Hintereinander reiten die beiden Freunde durch den mächtigen Torbogen in den Hof der Vorburg. Rechts und links des Eingangs steht je ein dick eingemummter Wächter mit einer langen Lanze. Ihre Mäntel sind dunkelblau, beinahe schon schwarz. Raill kann sich erinnern, dass Silàn bei den Verhandlungen in Linar diese Farbe trug. Bevor er sich den Kriegern vorstellen kann, ist ein freudiger Schrei über den Burghof zu hören.
«Raill! Du bist es tatsächlich!»
Mit fliegendem blondem Haar und flüchtig übergeworfenem Mantel eilt Hamain über den Hof auf ihren Bruder zu. Dieser schwingt sich ohne zu zögern vom Pferd, um seine ältere Schwester in die Arme zu schließen. Über Raills Schulter hinweg lächelt diese Steim zu. Sie ist aber noch nicht bereit, den Bruder loszulassen.
«Steim, herzlich willkommen. Ich freue mich ja so sehr, dass ihr uns besucht. Kommt, ihr müsst erschöpft sein von der Reise. Unser Stalljunge wird sich um euere Pferde kümmern.»
Sie deutet auf einen schlaksigen Jungen mit Sommersprossen, der ihr eilig gefolgt ist. Raill reicht ihm die Zügel seines Pferdes. Der Junge lässt den Hengst an seiner Hand schnuppern und nimmt dann auch Steims Zügel, um die beiden Pferde leise murmelnd wegzuführen.
«Keine Angst, er sagt nicht viel, aber von Pferden versteht er wirklich etwas. Wenn er und Fjenis zusammen sind, verstehe ich kein Wort von dem, was die beiden sich zu sagen haben.»
Raill lächelt. Er kann sich noch genau erinnern, wie sein bester Freund und späterer Schwager in diesem Alter war. Fjenis war nicht umsonst Stallbursche bei einem der angesehensten Häuser von Penira. Während die beiden Wächter das Tor wieder verschließen und den Mechanismus der Zugbrücke in Bewegung setzen, hakt sich Hamain bei Raill und Steim unter, um sie hinauf in die Hauptburg zu begleiten.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt