Erinnerungen
Liha steht auf der Dachterrasse des Sonnenpalastes und blickt dem Schatten hinterher, der vor dem abnehmenden Mond kleiner wird und kaum mehr sichtbar Richtung Eshte davonzieht. Pentim steht mit verschränkten Armen und nachdenklich gerunzelter Stirn neben ihm an der Terrassenbrüstung. Der König ließ es sich nicht nehmen, A'shei und Noak persönlich zu verabschieden.
A'shei verbrachte drei Tage in Penira. Er besuchte alte Freunde, darunter den Torwächter Steim und seinen Vater. Aber meist blieb er bei Liha. Der Besuch des Tanna führte zu mancher langen Zusammenkunft des inneren Rates. Pentim lauschte gemeinsam mit seinen Beratern der Botschaft der Königin der Nacht. Keiner von ihnen hatte bisher von den magischen Schwingungen gehört oder konnte sich eine Erklärung dafür vorstellen. Alle waren aber mit A'shei einig, dass sie nicht in Zusammenhang mit der Aufhebung des Verbots des Feuerkults stehen konnten, da Silàn die Schwingungen bereits davor wahrnahm. Trotzdem diskutierten sie ausführlich mögliche Konsequenzen der Aufhebung des Verbots.
Pentim verbrachte daneben soviel Zeit wie möglich mit seiner Familie. Bisher sieht es trotz aller Bedenken aus, als sei es richtig gewesen, sich auf die ungewöhnlichen Bedingungen des Heilers einzulassen. Dem Thronfolger geht es von Tag zu Tag besser, auch wenn ihm noch ein langer Genesungsweg bevorsteht. Das Volk nahm die Nachricht von der Aufhebung des Verbotes des Feuerkults gelassen entgegen. Bisher scheinen die Befürchtungen des Rates unbegründet zu sein.Liha verliert A'shei und seine Drachenfreundin Noak endgültig aus den Augen. Wie es wohl sein mag, einen Drachenschatten zu reiten? Der Krieger weiß, dass er niemals Gelegenheit haben wird, das auszuprobieren. Die Hrankaedí wählen ihre Reiter sorgfältig. Dass eine von ihnen einen Tanna aussuchte, grenzt an ein Wunder. Liha reibt sich müde die Augen. Jetzt, nach A'sheis Abreise, verspürt er umso stärker ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung. Ob das die magischen Schwingungen sind, die sein Freund erwähnte?
Liha erinnert sich an die erste Ratssitzung, an die er den Anführer der Tannarí mitbrachte. Die übrigen Ratsmitglieder empfingen den ruhigen, unscheinbaren Gast wohlwollend und herzlich. Liha war darüber zunächst erstaunt. Duwish lächelte spöttisch über sein verblüfftes Gesicht. Für einmal war es Katim, der seine Gedanken offen aussprach.
«Dein Freund mag jung sein, Liha, aber sein Ruf eilt ihm voraus. Wir sind geehrt, den Gesandten der Königin der Nacht zu begrüßen.»
Pentim, der kurz darauf die Ratskammer betrat, strahlte übers ganze Gesicht, als er A'shei in eine Bärenumarmung schloss. Danach wurde die Stimmung aber sofort ernst, und der Austausch von Informationen begann. Nun ist A'shei also wieder unterwegs nach Eshte, um seine Partnerin Silàn, die Königin der Nacht, über die Geschehnisse in Penira zu informieren. Liha blickt den König von der Seite her an. Pentim bemerkt es.
«Du möchtest wissen, woran ich denke, nicht wahr, mein Freund?»
«Mir sind solche Gedanken durch den Kopf gegangen, eure Hoheit.»
«Lass die Hoheit weg, Liha, wir sind unter uns. Ich dachte gerade daran, wie wir in Linar zum ersten Mal Drachenschatten begegneten. Das ist lange her. A'shei war damals noch sehr jung.»
«Und heute ist er ein wichtiger Verbündeter und großartiger Diplomat. Wir alle werden älter und erfahrener.»
«Das ist so. Aber Erfahrung und Diplomatie helfen uns nicht, mit einer magischen Bedrohung zurechtzukommen. Wenn A'shei und Silàn recht haben, stehen schwere Zeiten bevor. Und ich befürchte, dass ich die Situation mit der Aufhebung dieses uralten Verbots noch verschärfte. Ich beging einmal einen großen Fehler, als ich Femolai mein Vertrauen schenkte. Hoffentlich war dies nicht ein weiterer entscheidender Fehler.»
Pentim seufzt. Liha möchte seinen alten Freund und König gerne trösten, aber zu viele unklare Befürchtungen und Zweifel nagen an ihm. Er verzichtet deshalb auf eine Erwiderung. Schweigend blicken die beiden Freunde gegen Westen, in der Hoffnung, dass dort drüben, im weit entfernten Eshte, die Königin der Nacht und der ungekrönte König des Volkes der Dämmerung Antworten auf ungestellte Fragen finden.~ ~ ~
Onish bleibt am Waldrand stehen und lässt den Blick über ordentliche Felder und große Obstgärten schweifen. Sie sind Zeichen dafür, dass sie sich Honar nähern, seinem Geburtsort. Kej hält neben ihm an und schiebt ihren alten Hut zurück. Ihre Augen blitzen unternehmungslustig.
«Sieht aus, als kommen wir bald in ein Dorf. Ist das Honar, das du erwähnt hast?»
«Honar erreichen wir erst gegen Abend. Aber nun beginnen die umliegenden Höfe. Wir müssen damit rechnen, wieder auf Menschen zu treffen.»
Onish ist von dieser Aussicht nicht begeistert. Er genoss die vergangenen ruhigen Tage, allein mit Kej und Talisha. Das Mädchen und die Wölfin legten ihr anfängliches Misstrauen ab und begegnen sich inzwischen mit Respekt. Talisha würde lieber in der Nacht reisen, richtet sich aber nach den Bedürfnissen ihrer Begleiter. Allerdings lässt sie sich tagsüber oft lange nicht blicken, um irgendwann mit Jagdbeute aus dem Wald aufzutauchen. Das bedeutet, dass Onish nicht selber jagen muss. Sie kommen dementsprechend zügiger voran. Seit gestern häufen sich Anzeichen, dass sie sich einem größeren Dorf nähern. Talisha reagiert unruhig, sie mag menschliche Siedlungen nicht. Mit einem Blecken ihrer scharfen Zähne bleibt sie neben Onish stehen. Er legt ihr eine Hand auf den Nacken, um ihre Gedanken verstehen zu können.
‹Menschen. Ich werde um die Siedlung herumgehen und warte an der Straße dahinter auf dich.›
Onish nickt. Er versteht die Abneigung der Wölfin. Sie war lange gezwungen, in den Mauern der Hauptstadt Penira zu leben. Seitdem geht sie festen Gebäuden soweit als möglich aus dem Weg. Trotzdem will Onish das Dorf besuchen. Vielleicht kann er das Fell gegen Getreide oder Brot und Obst tauschen. Etwas abwechslungsreicheres Essen wäre begrüßenswert. Zudem würde er gern die neusten Nachrichten hören. Selbst wenn Honar nur ein abgelegenes Dorf im Hügelland Ataras ist, gibt es bestimmt Geschichten und Gerüchte, die er noch nicht kennt. Außerdem freut sich Kej darauf, unter Menschen zu kommen. Onish hofft nur, keinen Verwandten zu begegnen. Ob er seine Eltern und Geschwister überhaupt erkennen würde? Er hatte mit ihnen keinen Kontakt, seit er damals aus ihrem Haus verstoßen wurde. Seither besuchte er zwar Honar, aber nie das kleine, etwas abseits liegende Gehöft seines Vaters. Er nahm sich vor langer Zeit fest vor, niemals dorthin zurückzukehren. In zu vielen Träumen las er Verachtung im Gesicht seines Vaters, Angst in den Augen seiner Mutter, als sie ihn aus dem Haus wies.
Onish weiß, dass er sich glücklich schätzen kann, dass damals die ältere Halbschwester seiner Mutter zu Besuch war. Sie nahm den Jungen ohne ein Wort bei der Hand und verließ mit ihm den Hof seiner Eltern, für immer. Seine Tante nahm den verängstigten und verstoßenen Jungen bei sich auf. Seit dem Tod ihres Mannes bewohnte sie allein ein kleines Haus in der Nähe von Himenar. Ihren Unterhalt verdiente sie mit Schneiderarbeiten. Für den kleinen Onish hatte sie immer ein Lächeln übrig, wenn er ihr Tee an ihren Arbeitsplatz im hellsten Raum des Hauses brachte. Sie sprach nicht viel, aber Onish liebte seine Tante, die das einzige war, was ihm blieb. Dann, im Winter, entwickelte sie einen bösartigen Husten. Onish braute ihr Tee und probierte verschiedene getrocknete Kräuter aus, die sie besassen. Nichts half, der Husten wurde von Tag zu Tag schlimmer, das Gesicht der Tante bleicher und hagerer. Onish versuchte, sie zu einem Besuch bei einem Heiler zu überreden. Schließlich willigte sie ein.
Der alte Mann, der einmal im Mond seine Kräuter, Pulver und Salben auf dem Markt verkaufte, hatte einen guten Ruf als Heiler. Er mischte einige Kräuter und ein schwarzes Pulver zusammen. Nur zur Linderung, erklärte er der Tante. Onish verstand erst später, was sowohl sie wie auch der alte Heiler damals bereits wussten. Sie würde den nächsten Frühling nicht erleben. Dann schickte die Tante Onish los, Einkäufe zu machen. Als er zum Stand des Heilers zurückkehrte, war der Handel abgeschlossen. Er sollte bei dem alten Mann in eine Lehre gehen, selber die Heilkunst lernen. Onish sträubte sich und wollte seine einzige Verwandte nicht verlassen. Aber diese sprach lange ruhig auf ihn ein. Es sei zu seinem Besten und er könne sie besuchen kommen. Schließlich folgte Onish dem Heiler auf dem langen Weg zurück in ein abgelegenes Bergtal. So kam er zu Antim, dem Schattenwandler vom Berg, der ihn nicht nur den Umgang mit Kräutern sondern auch mit Schattenmagie lehrte.
Obwohl der Junge Antim und später Dánan schätzen und lieben lernte, verspürt er immer noch Schmerz, wenn er an den Tod seiner Tante denkt. Er war zusammen mit Antim dabei, als sie ihrer Krankheit erlag. Den letzten Mond verbrachte sie bei einer Freundin, die sie versorgte und pflegte. Die Frau war dem alten Schattenwandler und seinem Lehrling gegenüber misstrauisch und wollte sie zuerst nicht ins Haus lassen. Aber die Tante bestand darauf, Onish noch einmal zu sehen. Zusammen mit Antim harrte er an ihrem Bett aus, bis sie ihren letzten Atemzug tat. Danach blieben ihm nur noch der Schattenwandler und schmerzhafte Erinnerungen.
Talisha stupst Onishs Hand sanft mit der Nase an und reißt ihn damit aus seinen trüben Gedanken. Der Junge lächelt ihr zu.
«Entschuldige, ich wollte dir nicht meine alten Sorgen aufladen. Aber ich freue mich nicht, zurück nach Honar zu kommen. Dabei ist es ein Dorf wie jedes andere. Komm Kej, lass uns weitergehen. Bis bald, Talisha, pass auf dich auf. »
Kej wirft ihm einen besorgten Blick zu. Ihre gute Laune ist wie weggeblasen. Aber sie verzichtet darauf, Onish nach dem Grund für seine gedrückte Stimmung zu fragen. Statt dessen wendet sie sich an die Wölfin.
«Kommst du nicht mit uns?»
Talisha schüttelt den Kopf in einer offensichtlichen Geste des Unwillens. Onish lächelt schwach.
«Talisha mag Menschen und ihre Dörfer und Städte nicht. Sie stößt auf der anderen Seite von Honar wieder zu uns. Vielleicht ist es besser so. Ich glaube nicht, dass die Bauern hier sich über Wolfsbesuch besonders freuen.»
Talisha blinzelt und entblößt grinsend ihre scharfen Zähne, bevor sie im Unterholz verschwindet. Kej blickt ihr nachdenklich hinterher, bis sie ihre weiße Rute im Schatten nicht mehr erkennen kann. Dann folgt sie Onish, der ein gutes Stück vorausgegangen ist.
«He, warum plötzlich so eilig? Was habt ihr beide heute bloß? Man könnte meinen, das gute Wetter mache euch zu schaffen.»
«Nein, das Wetter ist nicht schuld. Wie gesagt, Talisha mag die Nähe von Menschen nicht. Außerdem sorgt sie sich um uns. Ich glaube, sie sieht in mir immer noch einen jungen Wolf, den sie beschützen muss.»
«Dafür bist du aber ziemlich groß. Wie lange kennt ihr beide euch eigentlich?»
Onish antwortet nicht sofort. Er lässt seinen Blick über die sanften, von Feldern und Obstgärten überzogenen Hügel schweifen. In der Ferne ist der erste Hof zu erkennen. Das ist wirklich kein Land für einen Wolf. Und er selbst fühlt sich in der Gegend auch nicht wohl. Er verbrachte wohl zuviel Zeit seines Lebens in der Wildnis, in Antims verstecktem Tal und auf der Jagd in abgelegenen Gebirgsgegenden von Atara. Aber Kej hat recht, der Tag verspricht wunderschön zu werden, mit wolkenlos blauem Himmel und einem leichten Wind, der das fast reife Getreide zum Wogen bringt. Es hat keinen Sinn, düsteren Gedanken nachzuhängen. Kej zieht überrascht die Augenbrauen hoch, als er endlich auf ihre Frage zurückkommt.
«Du könntest sagen, dass Talisha meine älteste Freundin ist. Wir lernten uns an dem Tag kennen, als Antim starb.»
«Antim war der Heiler, der dich aufnahm, als deine Eltern dich verstießen?»
«Genau. Das war zur Zeit des letzten Krieges zwischen Kelèn und Lellini. Silàn, die vor mir eine Schülerin Antims war, zog los, um sich der dunklen Königin Femolai zu stellen. Antim stöberte tagelang in seinen Büchern, in der Hoffnung, etwas zu finden, was Silàn helfen könnte. Schließlich glaubte er, eine wichtige Information entdeckt zu haben. Er war sehr aufgeregt und wir zogen sofort los. In Himenar besorgte Antim uns Pferde und wir reisten so schnell wir konnten auf dieser Straße hier nach Norden. Antim glaubte zu wissen, wo wir Silàn finden würden. Aber an einem Nebenfluss des Girit stellte uns Femolai. Antim befahl mir, mich zu verstecken. Ich war noch sehr jung und gehorchte. Ich musste mit ansehen, wie Femolai ihn in einem magischen Duell tötete. Er hatte keine Chance. Talisha war dort, in der Begleitung von Femolai. Die dunkle Königin gebot ihr, Antims Leichnam zu bewachen, wohl in der Hoffnung, dadurch Silàn in die Hand zu bekommen. Aber Antim war noch nicht tot, als Femolai wegging. Die Königin nahm wohl an, Talisha würde den Rest erledigen. Von mir wusste sie zum Glück nichts.
Ich hatte zuerst Angst vor Talisha, aber ich wollte unbedingt nach Antim sehen. Talisha tat mir nichts. Antim erkannte, dass sie durch einen Bannspruch an Femolai gebunden war. Mit der letzten Magie, die ihm verblieb, befreite er sie. Wir beide waren bei ihm, als er starb. Seitdem sind wir Freunde. Talisha begleitete und beschützte mich, als ich Antims Leichnam zurück nach Atara brachte. Und sie blieb bei mir, bis Dánan ins Tal kam, um mich zu unterrichten. Erst dann ging sie weg, um ihre eigene Freiheit zu genießen. Sie ist ein Wesen der Nacht und liebt die Wälder und die Einsamkeit. Trotzdem besucht sie mich regelmäßig.»
Kej lauscht schweigend der Erzählung ihres neuen Freundes. Sie beobachtete in den letzten Tagen, dass zwischen der weißen Wölfin und dem jungen Jäger eine besondere Beziehung besteht. Nun beginnt sie erst, deren Tiefe zu verstehen. Sie fragt sich, wie alt Talisha wohl sein mag. Der Krieg zwischen Kelèn und Lellini liegt viele Jahreszyklen zurück, sie war damals noch ein kleines Kind. Und Onish kann nicht viel älter sein als sie, er muss bei diesen Ereignissen noch ein kleiner Junge gewesen sein. Aber da gibt es noch andere Fragen, die ihr dringend erscheinen.
«Du kannst mit ihr sprechen, nicht wahr?»
«Sie schickt mir ihre Gedankenbilder. Und sie versteht sehr gut, was wir sagen. Ich glaube, sie besitzt eigene Magie, obwohl Dánan das für unwahrscheinlich hält. Die Schattenwandler glauben, Tiere hätten generell keine magische Begabung. Ich bin mir da nicht so sicher, aber vielleicht ist Talisha auch einfach eine Ausnahme. Ich weiß bestimmt, dass Silàn auch mit ihr sprechen kann.»
«Erzähl mir von Silàn. Ist es wahr, dass die Königin der Nacht eine Hexe ist?»
Onish lacht, als er Kejs erwartungsvolle Augen sieht. Sie steckt heute voller Fragen. Ob das daran liegt, dass sie den düsteren Wald verlassen haben und im Sonnenschein über die Felder wandern oder daran, dass Talisha nicht hier ist? Er überlegt, wo er beginnen soll, als ein wütendes Bellen ihn aus seinen Gedanken reißt. Ein brauner, zotteliger Hund kommt ihnen aufgeregt um eine Biegung des Weges entgegen. Kej bleibt erschrocken stehen und kramt aufgeregt in ihrer Tasche. Onish sammelt etwas Schattenmagie aus den Lichtflecken der Sonnenstrahlen, die durch die Krone einer alten Eiche am Weg fallen. Schlimmstenfalls könnte er den Hund mit einem Bannspruch abwehren. Aber dazu kommt es nicht. Ein scharfer Pfiff lässt den den Hund verharren. Um die Wegbiegung schlendert ein stämmiger Junge. Er mag einige Jahre jünger sein als Onish und hat das blonde Haar kurz geschnitten, wie es in dieser Gegend üblich ist. Aufmerksam mustert er die beiden Wanderer, während der Hund an seine Seite zurückkehrt, um seinen Meister aus großen Augen bewundernd anzublicken. Kej zieht verlegen die Hand aus ihrer Tasche. Flüchtig fragt sich Onish, was sie wohl darin suchte. Ihr Gürtelmesser ist soviel er weiß ihre einzige Waffe. Dann beschließt er, den unangenehmen Moment zu überbrücken.
«Guten Tag. Wir kommen aus Himenar und wollen nach Honar. Ist es noch weit bis dahin?»
Der fremde Junge zuckt die Schultern und kommt langsam etwas näher. Der braune Hund folgt ihm schwanzwedelnd. Onish streckt dem neugierigen Tier die linke Hand entgegen, damit es daran schnuppern kann. Bewusst nimmt er nicht die Hand, mit der er noch vor kurzem Talisha streichelte. Auf jeden Fall scheint der Hund die Wölfin nicht zu riechen oder sich zumindest nicht an ihrem Geruch zu stören. Freudig leckt er Onishs Finger, um dann an seiner Tragetasche zu schnuppern. Der fremde Junge lacht und entspannt sich etwas.
«Falls du da drin was essbares hast, passt du besser auf. Ich habe noch keinen Hund gekannt, der so gefräßig ist wie dieser hier. Bis nach Honar ist es nicht weit, ihr müsstet noch vor Sonnenuntergang dort sein. Aber .... kommt ihr tatsächlich den ganzen weiten Weg von Himenar? Durch den Wald?»
«Nun ja, wir benutzten natürlich die Straße. Aber du hast recht, sie führt ein gutes Stück durch den Wald.»
Der zottelige Hund betrachtet Onishs Tasche konzentriert aus zusammengekniffenen Augen während sein Meister ungläubig den Kopf schüttelt.
«Das wäre nichts für mich. Wo doch jeder weiß, dass es in diesem Wald Wölfe und andere wilde Tiere gibt. Ich glaube, ihr könnt euch glücklich schätzen, dass euch nichts passiert ist, so allein. Die meisten Reisenden, die hier vorbeikommen, haben Pferde und Wagen und reisen in Gruppen.»
«Das wussten wir nicht. Aber wir begegneten niemandem, der uns etwas antun wollte. Kannst du uns sagen, wann in Honar Markttag ist?»
«Ihr habt Glück, Markt ist in drei Tagen. Vielleicht sehen wir uns dann, Vater will mit den jungen Schweinen hin.»
Onish lächelt. Er hat nicht im Sinn, drei Tage in Honar zu verbringen. Aber er will dem Jungen auch nicht zuviel über sich verraten. Dieser betrachtet jetzt neugierig Kejs rotes Haar. Das Mädchen wird sichtlich nervös. Erst jetzt fällt Onish wieder ein, dass seine Begleiterin von zuhause weggelaufen ist.
«Sehr gut, dann sehen wir uns ja bestimmt auf dem Markt. Wollen wir los, Schwesterherz? Ich möchte wenn möglich noch vor Einbruch der Nacht beim Onkel ankommen. Er erwartet uns bestimmt schon.»
«Du hast recht. Vater hat ihm versprochen, dass wir noch vor dem Sommerneumond ankommen. Auf Wiedersehen dann, bis zum Markttag!»
Onish und Kej winken dem Jungen zu, bevor sie sich wieder auf den Weg machen. Der Junge winkt zurück und der braune Hund bellt freundlich. Kaum sind sie hinter der nächsten Wegbiegung und außer Sicht, steckt Kej ihr auffälliges Haar unter ihrem Hut hoch.
«So unvorsichtig war ich schon lange nicht mehr. Ich hoffe nur, er erzählt nicht all seinen Freunden von mir. Immerhin, deine Geschichte war nicht schlecht. Und danke, dass du mich als Schwester adoptiert hast!»
Kejs fröhliches Lachen wirkt ansteckend. Onish merkt erst jetzt, dass er sich während dem Gespräch mit dem Jungen verkrampfte. Er reibt sich den Nacken und lächelt zurück.
«Gern geschehen, Schwesterchen. Wir einsamen Reisenden müssen zusammenhalten.»
«Genau. Und, erzählst du mir nun mehr von Silàn?»
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...