Onish 3-12 Dánirahs Ring

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Dánirahs Ring

Der Shalen mustert noch einmal den Wald, in dem die beiden jungen Magier gestern entkommen konnten. Er steht vor der Entscheidung, die Verfolgung fortzusetzen oder weiter nach Norden zu ziehen, in die Richtung in der er die Feuerdrachen vermutet. Die Wahl ist schwierig. Obwohl vier seiner Söldner mehr oder weniger unverletzt geblieben sind, sind drei seiner anderen Getreuen nicht reisefähig. Einer der Männer hat sich den Knöchel verstaucht oder gebrochen, eine Frau klagt über starke Rückenschmerzen, eine zweite leidet wohl an einer Gehirnerschütterung. Die beiden übrigen Feuerkultanhänger bemühen sich beflissen, ihrem Shalen alle Wünsche von den Augen abzulesen. Dieses Verhalten würde in ihm normalerweise Befriedigung hervorrufen. Aber im Moment stört es ihn höchstens beim Fällen einer Entscheidung.
Zu allem Unglück beginnt es nun noch zu regnen. Hajtash zieht seinen langen, dunkelroten Mantel enger um die Schultern und schlägt die fellbesetzte Kapuze hoch. Dann ringt er sich zu einem Entschluss durch. Mit fester Stimme wendet er sich an die Verwundeten.
«Wir bleiben heute hier. Ihr drei seht zu, dass ihr euch ausruht und eure Verletzungen versorgt, damit wir morgen zeitig aufbrechen können.»
Auf den Gesichtern seiner Begleiter zeigt sich deutlich Erleichterung. Nun mustert Haitash die Krieger. Er weiß, dass sie ihren gefallenen Kollegen bestatten möchten. Aber er braucht Fährtenleser, wenn er die verlorene Spur wiederfinden will. Deshalb wendet er sich an den Anführer der Söldner.
«Ich möchte, dass du hier bleibst und das Lager bewachst. Nimm dir jemanden, der dir hilft, ein Grab auszuheben. Die beiden besten Spurenleser sollen mich begleiten. Ich will versuchen, die beiden Magier zu finden, die das hier angerichtet haben. Wir kommen spätestens bei Sonnenuntergang hierher zurück.»
Der Anführer der Söldner bedeutet mit grimmigem Gesicht der jüngeren der beiden Frauen und einem Krieger mit vernarbten Zügen, den Shalen zu begleiten. Die beiden packen ihre Waffen und machen die Pferde bereit. Haitash kann verstehen, dass die Söldner nach Rache für den Tod ihres Freundes dürsten.

~ ~ ~

Taliten öffnet langsam die Augen. Sein Blick sucht Kej, die an seinem Lager sitzt und leise auf ihrer Flöte spielt. Regentropfen trommeln auf dem Zeltdach eine Begleitung. Der Tanna mustert die Flötenspielerin und schließt die Augen wieder, um entspannt der Musik zuzuhören. Onish nimmt das als gutes Zeichen und lächelt Kej zu. Er sitzt nun schon lange in dem behelfsmäßigen Zelt am Krankenlager, hingerissen zwischen Angst und Hoffnung. Naoràn ist zum Glück nicht hier. Sie verfolgte argwöhnisch jede von Onishs Bewegungen, während er die Wunden ihres Mannes versorgte und mit sorgfältigen Stichen nähte. Der Schattenwandler war froh, als eine ihrer Freundinnen die Tanna überredete, ihn mit dem Verwundeten allein zu lassen.
Da der Himmel seit dem frühen Morgen bewölkt war, konnte Onish nur sehr eingeschränkt auf Schattenenergie zugreifen. Alles, was er an Magie besaß, ließ er in Talitens Heilung fließen. Trotzdem ist er immer noch nicht sicher, ob seine Bemühungen erfolgreich waren. Während er den klaffenden Riss in seinem Hemd flickt, lauscht er Kejs Flötenspiel, das verebbt und mit einem langen, getragenen Ton verstummt. Taliten schlägt die Augen auf.
«Danke!»
«Du solltest dich bei Onish bedanken, er hat dich zusammengeflickt.»
Taliten folgt Kejs Blick mit fiebrigen braunen Augen und nickt nachdenklich.
«Ich hatte sehr viel Glück, dass ein Heiler im richtigen Moment in unser Lager kam. Du bist ein Schattenwandler?»
«Ja, das bin ich. Aber manche in deiner Familie scheinen das zu bezweifeln.»
In Onishs Stimme schwingt ein Hauch von Bitterkeit. Er schämt sich dafür, aber es fällt ihm schwer, die morgendlichen Erlebnisse zu vergessen. Ohne Taliten anzublicken, konzentriert er sich auf die letzten Stiche an seinem Hemd und zieht dann die Jacke aus, um es sich überzustreifen. Beim Anblick des silbernen Armrings am Oberarm des Schattenwandlers zieht der Verwundete hörbar die Luft ein.
«Dieser Ring! Ich habe ihn schon gesehen. Kennst du Dánirah, Tochter von Shonai?»
Onish blickt auf. Taliten scheint nicht so von Vorurteilen geprägt wie seine Frau. Vielleicht kann er von ihm etwas über Dánirahs Ring erfahren.
«Dánirah-mit-den-Träumen schenkte mir diesen Ring, zum Beginn meiner Reise. Seither trage ich ihn. Heute wurde ich seinetwegen des Diebstahls bezichtigt. Was weißt du über den Ring, Taliten?»
«Nicht genug. Aber er gehört zu einer ganzen Reihe solcher uralter Ringe. Sie wurden von einem berühmten Tanna-Silberschmied gegossen, zu einer Zeit, als die Tannarí noch ein großes, stolzes Volk waren. Sie tragen den Namen ‹Ringe der Wahrheit›. Es heißt, sie könnten nicht verkauft, sondern nur verschenkt werden. Zudem wird behauptet, einen solchen Ringe könne nur tragen, wer der Wahrheit würdig sei.»
Onish mustert den Ring nachdenklich. Dánirah meinte damals, er trage die Stammeszeichen der Tannarí. Darüber hinaus erklärte sie ihm aber nichts, wusste möglicherweise selbst zuwenig über die Bedeutung des Schmuckstücks. Taliten lächelt, als er Onishs Miene beobachtet.
«Dass du diesen Ring besitzt, sagt mir, dass ich dir vertrauen kann. Wer einen Ring der Wahrheit trägt, galt früher bei meinem Volk als Vermittler, Vertrauensperson oder Richter. Du sagst, du wurdest des Diebstahls bezichtigt?»
«Naoràn meinte, ich hätte dich überfallen und den Ring gestohlen.»
«Naoràn ist aufbrausend und lässt sich von ihrer Wut blenden. Ich wurde vorgestern auf dem Rückweg zu meinem Volk von Söldnern überfallen. Sie raubten mir die Lebensmittel und Vorräte, die ich in Haonjit eingetauscht hatte. Ich konnte unser Lager trotz meiner Verletzungen erreichen, aber wenn du nicht gekommen wärst, wäre ich wohl heute nicht mehr aufgewacht. Ich verdanke deiner Magie mein Leben und stehe in deiner Schuld, Schattenwandler.»
Onish senkt verlegen den Blick. Taliten weiss offensichtlich, dass er bei seiner Heilung Magie verwendete. Es ist seltsam, mit einem anderen Heiler über solche Dinge zu sprechen. Nachdenklich fragt er sich, ob die Söldner, die den Tanna überfielen, zu Hajtash gehörten. Taliten lässt sich erschöpft zurück auf sein Lager fallen, ohne Onish aus den Augen zu lassen. Nach einer Weile ergreift er noch einmal das Wort.
«Ich sehe, dass dich etwas bedrückt. Kann ich dir helfen?»
«Du sagst, du wurdest von Söldnern überfallen. Wir waren auf der Flucht vor einer Gruppe Söldner, als wir auf euer Lager trafen. Ich bemühte mich, unsere Spur zu verwischen, aber ich fürchte, sie werden uns früher oder später aufspüren.»
Talitens Augen weiten sich und er setzt sich unvermittelt auf. Kej, die bisher schweigend die Unterhaltung verfolgte, versucht ihm zu helfen. Der Tanna wehrt sie aufgeregt ab und ruft laut nach jemandem namens Senai.
Kurz darauf führt der alte Mann vom Morgen eine noch ältere Frau ans Lager des verwundeten Heilers. Ihre runzlige Haut ist von der Sonne dunkel gefärbt und das weiße Haar fällt in vielen langen Zöpfen über ihre Schultern. Sie geht trotz ihres hohen Alters sehr aufrecht. Mit einem freundlichen Nicken zu Onish und Kej lässt sie sich neben Taliten nieder und nimmt sanft die Hand des Verwundeten in ihre eigene. Taliten atmet wieder ruhiger und fasst zusammen, was Onish berichtete. Dieser muss daraufhin die Geschichte ihrer Flucht vor Hajtash wiederholen. Danach herrscht nachdenkliches Schweigen. Schließlich räuspert sich die alte Frau. Ihre Stimme ist heiser, aber fest.
«Ich bin Senai, Älteste dieses Volkes. Ich grüße euch, Onish aus Atara und Kej aus Nirah. Ich bin froh, dass Dánirahs Ring der Wahrheit dich in unser Lager führte, Onish. Ohne dich hätten wir unseren einzigen Heiler verloren. Erlaubst du mir, den Ring zu sehen?»
Onish streift den Armring ab und reicht ihn Senai. Sie studiert sorgfältig die eingravierten Zeichen und streicht sanft mit dem Finger über die uralte Schrift. Ihr Gesicht wirkt beinahe ehrfürchtig, als sie den Ring zurückgibt.
«Es heißt, Ringe der Wahrheit seien mit Magie gefüllt. Ich habe das bisher für eine Legende gehalten. Ich besitze weder die Gabe der Magie noch jene der Träume. Trotzdem spüre ich die Kraft in diesem Ring. Er trägt deinen Namen. Er nennt dich in der alten Schrift ‹Onish, Kind der Sonne und der Berge, Heiler, Jäger, Wanderer, Schattenwandler vom Weg.›»
Onish dreht den Ring überrascht und ungläubig in der Hand. Er findet keinen Grund, an Senais Worten zu zweifeln. Zu genau umschreiben sie ihn. Ob Dánirah wohl diese Schrift lesen konnte? Oder ist es denkbar, dass sich die Zeichen auf dem Ring verändern, je nach dem, wer ihn trägt? Senai scheint seine Gedanken zu lesen.
«Ich kenne deine Fragen, Onish, aber keine Antworten. Ringe der Wahrheit gehören in eine andere Zeit. Es steht außer Zweifel, dass dieser Ring dir gehört. Als Dánan sich vom Weg abwandte und in die Berge von Atara zog, um Schattenwandlerin vom Berg zu werden, fürchtete ich um unser Volk. Nun sehe ich, dass ich kurzsichtig war. Der Schattenwandler vom Weg ist zurückgekehrt.»
Onish lässt sich die Worte der Ältesten durch den Kopf gehen. Vielleicht sollte er sich daran gewöhnen, Dánans Nachfolge anzutreten. Vielleicht ist es seine Bestimmung, Schattenwandler vom Weg zu werden. Sein Blick wandert zu Kej, die ihm aufmunternd und beinahe stolz zulächelt. Entschlossen schiebt Onish den Ring über den Ellbogen hoch und zieht das Hemd darüber.
«Ich habe kein Tannablut und deshalb nie damit gerechnet, dass mein Schicksal mich zum Volk der Dämmerung führen könnte. Aber nun bin ich bereits so lange unterwegs, dass es mir nicht mehr unmöglich scheint, Schattenwandler vom Weg zu sein. Dánan war meine Lehrerin, Senai, vielleicht schließt sich hier ein Kreis. Trotzdem bin ich, wie der Ring sagt, nur Schattenwandler und einem Feuermagier nicht gewachsen. Wenn der Shalen von Penira uns hier findet, wird er auch deinen Stamm bedrohen.»
«Du hast Taliten geholfen und wir werden euch helfen. Die Tannarí haben viel Übung darin, Spuren zu verwischen und ihre Gegner in die Irre zu führen. Wohin führt euer Weg?»
«Hinunter zum Haon. Wir hoffen, dort auf einen Freund zu treffen, der uns auf seinem Schiff nach Norden mitnimmt.»
Senai steht entschlossen auf, bereit, ihr Versprechen sofort in die Tat umzusetzen. Obwohl es bereits Nachmittag ist, sind bald fünf Reiterpaare unterwegs, um falsche Spuren zu legen. Onish und Kej werden mit neuen Vorräten ausgestattet und sind rasch reisefertig. Ein junger Tanna soll sie ein Stück weit durch das Grasland von Linar begleiten und ihnen den kürzesten Weg zum Haon weisen. Sie verabschieden sich von Taliten und Naoràn, die sich mit gesenktem Blick bei ihnen für ihre falschen Vorwürfe entschuldigt. Onish drückt ihr schweigend die Hand und bedankt sich herzlich bei Senai für die Hilfe. Diese schließt Kej in die Arme.
«Wir haben wenig über dich gesprochen, Flötenspielerin. Aber ich spüre große Kraft in dir. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deiner wichtigen Aufgabe. Ich bin sicher, dass du sie gut zu Ende bringen wirst. Und dir, Schattenwandler, wünsche ich alles Gute auf allen Wegen. Sie werden bestimmt diejenigen der Tannarí wieder kreuzen. Das Volk der Dämmerung wird deinen Namen nicht wieder vergessen, Onish.»

~ ~ ~

Akim betritt gähnend das Deck und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Rihàn steht am Ruder und sieht aus, als sei sie zum Umfallen müde. Er lächelt seiner Schwester zu, bevor er sie ablöst und zum Schlafen unter Deck schickt. Rasch kontrolliert er die Segelstellung und den Kurs. Der Fluss ist hier breit und bietet kaum Gefahren. Aber die Nacht ist dunkel und er muss sich konzentrieren, wenn er das Ufer erkennen will. Wenigstens haben sich inzwischen die meisten Wolken aufgelöst, so dass zumindest die Sterne etwas Licht geben.
Seine lange Erfahrung als Flussschiffer hilft Akim, den seichten Uferbereich wahrzunehmen, bevor er dem Schiff gefährlich wird. Manchmal genügt es ihm, wenn er den Wind im Schilfrohr flüstern hört. Während der Morgenwind das schwere Frachtschiff sanft vorantreibt, hängt der junge Schiffer seinen Gedanken nach. Wie es wohl seinem Bruder Sanesh geht? Er hat ihn seit Monden nicht mehr gesehen, da ihre Reise schon eine ganze Weile nicht mehr bis hinunter nach Lelai führte. Akim ist fest entschlossen, diesmal darauf zu bestehen, mit der nächsten Fracht wieder flussabwärts zu ziehen und Sanesh zu besuchen. Er ist sicher, dass dieser Heimweh nach seiner Familie hat.
Im Moment sind sie aber noch flussaufwärts unterwegs, mit Fracht für Haonjit. Sie sollten den großen Flusshafen in wenigen Tagen erreichen. Danach will Delani neue Fracht suchen, entweder nach Zalkenar, das weiter südlich am Haon liegt, oder flussabwärts nach Norden. Delani ist nicht wählerisch, wenn es um ein gutes Geschäft geht. In Gedanken geht Akim die Argumente noch einmal durch, die er seinem Vater gegenüber vorbringen will. Obwohl er weiß, dass es Sanesh in Lelai besser geht als bei ihnen an Bord, vermisst er seinen Bruder und auch seine Schwester Rihàn sehnt sich nach dem jüngsten Mitglied der Familie.
Akim seufzt. Es wird nicht einfach werden, den Vater zu überzeugen. Dabei weiß er, dass Delani seinen jüngsten Sohn genauso liebt wie seine Geschwister. Aber der Schiffer hat ein schlechtes Gewissen Sanesh gegenüber. Er macht sich Vorwürfe, dass er die Ursache seiner Krankheit nicht erkannte. Dabei wäre es ohnehin nicht in seiner Macht gelegen, etwas dagegen zu tun. Für Sanesh war die Begegnung mit Onis und Kej ein Glücksfall. Der Schattenwandler erkannte sofort die magische Ursache der Krankheit und fand mit Jakrim in Lelai einen Lehrmeister, der bereit war, Sanesh richtig auszubilden.
Akim wird durch einen unangenehm kalten Windstoß aus seinen Gedanken gerissen. Er fröstelt und fühlt sich plötzlich beobachtet. Das kann nur Einbildung sein, mitten auf dem Fluss ist er allein und alles ist ruhig. Delani und Rihàn schlafen friedlich unten in ihrer Kajüte. Trotzdem sieht sich Akim mehrfach um, verunsichert durch das Gefühl einer fremden Gegenwart. Nur schwer gelingt es ihm, diese seltsame Angst abzuschütteln. Erleichtert beobachtet er, wie der Himmel im Osten heller wird. Die tiefer stehenden Sterne verblassen und am Horizont bildet sich ein breiter werdender grauer Streifen. Inzwischen kann er in den dünnen Schwaden des Morgennebels über dem Fluss das Ufer erahnen.
Akim lächelt still über seinen vorherigen Angstanfall, der ihm inzwischen unbegründet und übertrieben erscheint. Mit einem Blick in die Segel korrigiert er den Kurs des Schiffes. Das Lächeln auf seinen Lippen erstirbt, als ihm der große, glänzend schwarze Stein auffällt, der zwei Schritte vor ihm auf Deck liegt. Akim kennt das Schiff und alles, was sich darauf befindet, wie seine eigene Handfläche. Er hat diesen Stein noch nie gesehen und kann sich nicht erklären, wo er plötzlich herkommt. Erst da entdeckt er das eng beschriebene Stück Papier, das davon festgehalten wird.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt