Onish 2-20 Der letzte Schatz der Shahraní

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Der letzte Schatz der Shahraní

Talisha legt den Kopf auf die ausgestreckten Vorderläufe und blinzelt zufrieden ins Feuer, während sie sich von der Nachmittagssonne den Rücken wärmen lässt. Sie ist gerade erst von einem langen Erkundungsgang zurückgekehrt und ihre guten Nachrichten haben Onish veranlasst, heute früher das Lager aufzuschlagen. Jetzt, wo der Shalen die Verfolgung endgültig aufgegeben hat und auf dem Rückweg nach Penira ist, können sie eine langersehnte Rast einlegen. Der Platz ist windgeschützt genug und das Wetter verspricht trocken zu bleiben, so dass sie sich trotz Schnee auf eine ruhige Nacht freuen können.
Talisha löste sich in den letzten Tagen mit den Diuneldí ab, um den Feuermagier und seinen schwerfälligen Wagenzug zu beobachten. Der Shalen suchte unermüdlich nach den Spuren der vermeintlichen Finder der Dracheneier. Ab und zu stieß er dabei auf die Fährten einer Gruppe von Lihas Kriegern, einmal auch auf die Spur von Kej und Onish. Aber die Diuneldí stellten sicher, dass sie ihre Schützlinge über schneefreie Felsplatten und durch Geröllhalden führten, manchmal auch durch das steinige Bett eines Bachs, so dass sie kaum Spuren zurückließen.
Nachdem sie die Nachricht erhalten hatten, dass Ranoz die Eier in Sicherheit bringen konnte, teilte Liha auf Wunsch der Diuneldí seine Krieger in fünf Gruppen auf, die jeweils der Führung eines Diuneld folgten. Onish und Kej verabschiedeten sich gleichzeitig von ihren neugewonnenen Freunden, um unter Talishas Führung dem Ruf Silàns zu folgen. So gelang es ihnen, mit Hilfe der Diuneldí sechs verschiedene Fährten zu legen, um den Shalen in die Irre zu führen.
Nach den heftigen Schneefällen der letzten drei Tage musste der Feuermagier schließlich seinen Fehler einsehen und die Verfolgung aufgeben. Ungehalten machte er sich mit seinem Diener auf den Rückweg nach Penira. Die Wagen folgen ihm langsam unter der unwilligen Führung seiner Schülerin nach.
Die Diuneldí bestätigten Talisha, dass Liha inzwischen all seinen Kriegern wieder getroffen hat und ebenfalls in die Hauptstadt zurückkehrt, allerdings auf einem anderen Weg als der Shalen. Ob Liha Penira noch vor dem Feuermagier erreichen kann ist aber unsicher. Er will auf jeden Fall alles daran setzen.
Grundsätzlich ist die Wölfin sehr zufrieden mit dem Verlauf des Ablenkungsmanövers. Zudem hat sie in den Diuneldí unerwartete und ausgesprochen scharfsinnige Verbündete gefunden. Wer hätte gedacht, dass diese Sache dazu führen würde, dass die geheimnisvollen Wesen des Tages mit den Wesen der Nacht gemeinsame Sache machen würden! Talisha bezweifelt, dass so etwas schon einmal geschehen ist, außer vielleicht in uralten Geschichten.
Schläfrig mustert die weiße Wölfin über die Flammen des kleinen Feuers hinweg Onish, der einen Spieß mit Fleisch kontrolliert, bevor er sich mit ernstem Gesicht Kejs verletztem Bein zuwendet. Sorgfältig beginnt er, den Verband zu entfernen. Kej beobachtet ihn nachdenklich, bevor sie eine scheinbar zusammenhanglose Frage stellt.
«Onish, da gibt es etwas, was ich dich schon lange fragen wollte. Du hast damals zu Hajtash gesagt, du seist Etim aus Honar. Da du in Anwesenheit des Feuermagiers nicht lügen konntest, gehe ich davon aus, dass dein Name früher einmal Etim war. Weshalb hast du ihn geändert?»
Onish legt den alten Verband beiseite und beginnt sorgfältig Kejs Bein mit einem Lappen zu reinigen, den er mit warmem Wasser aus dem Kochtopf anfeuchtet. Er lässt sich Zeit mit einer Antwort.
«Ich habe meinen Namen nicht geändert. Was mich betrifft, so gibt es Etim schon lange nicht mehr. Meine Tante begann mich Onish zu nennen, als sie mich zu sich nahm. Onish ist in Atara ein typischer Name für ein Waisenkind. Sie meinte, dass würde mir viele Fragen nach meiner Herkunft ersparen. Da meine Eltern ohnehin nichts mehr von mir wissen wollten, fand ich den Namen passend.»
«Onish heißt etwa ‹Sohn der Luft›, nicht wahr? Ich finde, es ist ein schöner Name und er passt auch gut zu dir.»
«Danke. Ich habe mich daran gewöhnt. Ich glaube, Namen sind weniger wichtig, als was wir aus ihnen machen.»
Mit sanftem Druck tastet er Kejs Bein ab und bewegt vorsichtig ihren Fuß hin und her. Trotz der Anstrengungen der letzten Tage scheint der Heilungsprozess gut zu verlaufen. Onish nickt zufrieden.
«Bald wirst du wieder normal gehen können. Aber in den nächsten Tagen musst du noch etwas vorsichtig sein.»
«Hmm, das verdanke ich allein dir. Ich glaube, du machst ziemlich viel aus deinem Namen, Onish vom Weg.»
«Nun, das gilt wohl für dich genauso, Kej-mit-der-Stimme!»
Kej verzieht zuerst das Gesicht. Sie hätte es vorgezogen, wenn Luok diesen Übernamen nicht gleich so öffentlich verwendet hätte. Aber Onishs verschmitztes Lächeln bringt sie schließlich dazu, fröhlich aufzulachen. Sie kann weder der jungen Hrankae noch dem Schattenwandler deswegen böse sein. Lachend schüttelt sie ihren roten Lockenschopf, so dass die wilden Kringel in der Abendsonne golden glänzen.
Talisha hebt überrascht den Kopf. Das ist es, das ist das Bild aus Dánirahs Traum! Die Wahrträumerin beschrieb eine junge Frau mit rot in der Sonne glänzendem Haar, die im tiefen Schnee lachend an einem Feuer sitzt. Obwohl Talisha selbst immer überzeugt war, dass dabei von Kej die Rede war, ist sie sich nun sicher, dass Dánirah genau von diesem Moment träumte.
Mit einem zufriedenen Knurren rollt sich die weiße Wöfin zusammen und steckt den Kopf unter ihre dichte Rute, um etwas zu schlafen. Sie nimmt es als sehr gutes Zeichen, dass der Traum der Tanna so in Erfüllung geht. Das Schicksal wird seinen Lauf nehmen, und diese beiden haben ihren Anteil daran.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt