Onish 1-14 Nachricht der Dunkelheit

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Nachricht der Dunkelheit

Onish, Kej und Talisha kommen in gut voran. Inzwischen sind sie bereits tief in Inoira und können aus der Ferne den Hintosh bewundern, den Königsberg. Auf seinem Gipfel wurde laut der Legende der Friedensvertrag zwischen den Häusern Diun, dem Haus der Sonne, und Silita, dem Haus des Mondes unterzeichnet. Dies geschah vor langer Zeit, während der Herrschaft von Mirim und Ureshàn. Onish erinnert sich noch gut an den Tag, an dem er die Geschichte zum ersten Mal hörte. Damals tauchte der verräterische Schattenwandler Gorenim in Antims Tal auf, um Silàn eine Botschaft Femolais zu überbringen. Die selbsternannte Königin der Dunkelheit wollte die Erbin von Silita auf dem Hintosh treffen. Obwohl allen klar war, dass es sich um eine Falle handelte, nahm Silàn die Einladung oder besser Herausforderung an. Onish bewunderte sie damals für ihren Mut. Heute weiß er, dass die junge Königin der Nacht zu dieser Zeit kaum älter war, als er heute ist. Ob er wohl auch den Mut aufbringen würde, in solch eine offensichtliche Falle zu ziehen?
Die Straße ist hier belebter als jenseits des Flusses Girit. Seit Tagen wird das Land offener, bestellte Felder und Obstgärten, die zu freundlichen kleinen Weilern gehören, unterbrechen den Wald. Die Gegend ist reicher und fruchtbarer als das Waldland von Atara. Die Hügel sind flacher und es gibt mehr Wasser. Während Kej und Onish interessiert die Veränderungen beobachten, gefällt die Gegend Talisha nicht besonders. Die Wölfin zieht das wilde Waldland der kultivierteren Gegend vor. Noch findet sie genug Wild, um die kleine Reisegruppe zu versorgen. Aber sie weiß, dass dies bereits in den nächsten Tagen problematisch werden wird.
Häufig begegnen sie nun anderen Menschen, Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern oder zum Markt, Kindern die Vieh hüten, Händlern die mit schwer beladenen Wagen unterwegs sind. Onish merkt zum Glück meistens, wenn solche Begegnungen bevorstehen, und kann Talisha warnen. Wie ein flüchtiger Schatten verschwindet diese dann abseits der Straße, um später genauso unauffällig wieder zu ihren Begleitern zu stoßen. Die Menschen sind offen und freundlich. Manchmal bekommen Kej und Onish frisches Obst zugesteckt. Gestern wurden sie von einer Bauernfamilie, die auf den Feldern arbeitete, zum Mittagessen eingeladen. Kejs grenzenlose Begeisterung über das frische Brot brachte alle zum Lachen. Schließlich schenkte die Bäuerin den Reisenden den Rest des großen Laibes. Onish bedankte sich dafür mit einer Salbe gegen den entzündeten Hautausschlag ihrer Tochter. Sie trennten sich freundschaftlich von der Familie, die sich wieder der Feldarbeit zuwandte.

Sie erreichen den Marktort Ushar am frühen Nachmittag. Talisha ließ sich seit den Morgenstunden nicht mehr blicken. Sie zieht es vor, in dieser dicht bewohnten Gegend ihren eigenen Weg zu suchen. Das Dorf besteht aus weiß getünchten, steinernen Häusern, die mit weit ausladenden Strohdächern gedeckt sind. Diese Bauweise ist für Inoira typisch. Sie wirkt sowohl auf Kej wie auf Onish fremd. In Nirah und in Atara gibt es fast nur schindelgedeckte Holzbauten. Rings um die großzügig ausgelegten Häuser liegen gepflegte Gärten. Darin wachsen Blumen, Früchte- und Gemüsesorten, die Onish nur aus Danàns Erzählungen und Antims Büchern kennt. Kej macht große Augen. Das Klima ist milder als in ihrer Heimat und von manchen dieser exotischen Früchte hörte sie bisher nur in Geschichten.
Es ist der Tag des Vollmonds und damit großer Markttag in Ushar. Kej kommt aus dem Staunen nicht heraus. Der Markt ist größer als jener von Ramenar, den sie ein Leben lang für den größten überhaupt hielt. Sie bleibt an fast jedem der farbenfrohen Stände stehen, um mit Begeisterung die Auslage zu betrachten. Onish hält sich zurück und begnügt sich damit, ihr zuzusehen. Er erlebte ebenfalls noch nie einen Markt dieser Größe. Aber ihm ist es nicht wohl unter so vielen Menschen. Er hat Mühe, die zahlreichen Eindrücke zu verarbeiten, die auf sein empfindliches Gespür für das Wesen der Menschen einhämmern. Mit eisernem Willen aber mäßigem Erfolg versucht er, seine Begabung unter Kontrolle zu halten. Erst nach einer Weile fällt Kej seine Schweigsamkeit auf.
«Onish? Was ist los? Du bist ganz bleich im Gesicht!»
«Für mich sind hier zuviele Menschen. Ich komme mit ihren projizierten Gedanken, Wünschen und Ängsten nicht klar. Macht es dir etwas aus, wenn ich vorausgehe und Talisha suche? Wir können am Weg auf dich warten.»
Enttäuscht wirft Kej einen Blick auf einen Stand, an dem Süßigkeiten angeboten werden. Entschlossen wendet sie sich ab und nimmt Onish bei der Hand.
«Komm, lass uns gehen. Wir haben ohnehin kein Geld, um hier einzukaufen. Wenn dich die Menschenmenge krank macht, lasse ich dich nicht allein durch dieses Gewühl da vorne ziehen.»
Der junge Schattenwandler lächelt schwach und folgt seiner Freundin über den Platz. Am anderen Ende scheint die Menge wirklich besonders dicht. Bald zeigt sich, warum. Hier führen Akrobaten und Jongleure ihre Kunststücke vor. Kej bleibt einen Moment fasziniert stehen, bevor sie sich an ihre Mission erinnert. Entschlossen zieht sie Onish weiter, die breite Straße hinunter. Er folgt ihr erleichtert, dass hier der Druck auf seine Wahrnehmung nachlässt. An der nächsten Ecke plätschert ein Brunnen. Er schöpft mit der Hand Wasser, um sein Gesicht zu kühlen. Kej betrachtet ihn besorgt.
«Ist es immer so schlimm, wenn du in einen belebten Ort kommst?»
«Nicht immer. Am schlimmsten ist es, wenn die Menschen aufgeregt sind und starke Gefühle empfinden. Angst, Hass, aber auch große Freude oder Liebe. Heute sind alle ausgelassen wegen dem Fest und lassen ihren Emotionen freien Lauf. Das belastet mich mehr, als wenn sie normal ihrer Arbeit nachgehen.»
«Kannst du nichts dagegen tun?»
«Nicht viel. Wenn ich genügend Schattenmagie sammeln kann, kann ich einen Schutzbann weben. Aber bei diesem eintönig bedeckten Himmelfällt mir das schwer.»
«Dann lass uns gehen, es wird bestimmt besser, wenn wir das Dorf verlassen.»
«Bestimmt. Aber wenn du noch bleiben möchtest, darfst du das gerne tun. Es wird am Abend ein Fest mit Musik geben.»
«Das macht ohne dich keinen Spaß. Komm, wir suchen uns einen guten Lagerplatz. Das wird bestimmt nicht einfach, so nahe bei einem Dorf.»
Onish verzichtet auf weitere Einwände. Plötzlich hat er es eilig, Talisha wieder zu finden. Er empfindet ein unbestimmtes Angstgefühl.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt