Onish 2-9 Die Berggeister von Sellei

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Die Berggeister von Sellei

Seit Onish, Kej und Talisha vor einem Viertelmond den Selin überschritten haben, folgen sie dem Flusstal aufwärts, in die Berge von Sellei. Sie kommen zügig voran, obwohl es hier keine richtigen Straßen mehr gibt. Wenn das Grasland schon dünn besiedelt ist, so kann die Gegend am Oberlauf des Sellei als einsam bezeichnet werden. Die wenigen Dörfer liegen weit auseinander, die Menschen leben vor allem von der Viehzucht, denn die harten Böden tragen nur spärlich Frucht. Flussfischerei hilft den Siedlern in dieser kargen Gegend zu überleben. So kurz vor dem Winter macht sie einen trostlosen Eindruck. Die Menschen, die hier leben sind Fremden gegenüber zurückhaltend. Talisha meint, sie seien zu oft in die Konflikte zwischen den großen Reichen Lellini und Kelèn verwickelt worden und hätten gelernt, dass es besser sei, für sich zu bleiben. Kej, die ihre Neugier kaum bändigen kann, ist enttäuscht, dass sie keine Gelegenheit erhält, die eigentümlichen Häuser dieser Menschen von innen zu sehen. Sie muss allerdings zugeben, dass es unhöflich wäre, in einem der kleinen und ärmlichen Weiler um Gastfreundschaft zu bitten.
Gegen Abend erreichen sie eine kleine Siedlung, die direkt am Fluss liegt. Einige Fischernetze hängen zum Trocknen an hölzernen Gestellen und rings um die wenigen Gebäude liegen kleine Gärten, die ordentlich aufgeräumt und für den Winter vorbereitet sind. Die runden Häuser sind aus Feldsteinen aufgeschichtet, mit geduckten Dächern aus flachen Steinplatten, über denen sich Rauch kräuselt. Die Eingänge sind niedrig und wirken wie schwarze Löcher. Fenster gibt es keine. Kej versucht aus der Anzahl Kinder, die um die vier Wohnhütten herumtollen, auf die Größe dieser Dorfgemeinschaft zu schließen. Aber sobald die Kinder der Reisenden gewahr werden, verschwinden sie in den Häusern. Nur einige Hunde bellen die Besucher an und geben ihnen deutlich zu verstehen, dass sie hier nicht erwünscht sind. Onish ist froh, dass Talisha wie immer die Nähe von Menschen scheut und irgendwo abseits der Straße durch die Gegend streicht. Die Hunde wären bestimmt wesentlich aggressiver, wenn sie die Wölfin riechen könnten.
Ein groß gewachsener Mann mit kurzgeschorenem, braunem Haar duckt sich durch den Eingang einer Hütte und bleibt breitbeinig mit verschränkten Armen vor seinem Haus stehen. Onish zügelt seinen Hengst und lässt sich aus dem Sattel gleiten. Kej tut es ihm gleich und nimmt die Zügel beider Tiere, während der Schattenwandler auf den fremden Mann zutritt.
«Ich grüße dich. Wir sind auf dem Weg nach Osten. Kannst du uns sagen, wie die Straße ist?»
Der Mann reibt sich nachdenklich das bärtige Kinn. Aus zusammengekniffenen Augen mustert er die Besucher. Plötzlich bewegt sich etwas hinter ihm im Hauseingang. Ein brauner Wuschelkopf späht um das Bein des Mannes herum. Zwei große neugierige braune Augen blinzeln ins fahle Sonnenlicht. Der Mann, wohl der Vater des Kindes, legt diesem eine Hand auf den Kopf und schiebt es zurück ins Haus. Aber das kleine Mädchen will sich nicht so einfach abwimmeln lassen.
«Wer sind diese Leute?»
Die helle Kinderstimme entlockt Onish ein Lächeln. Das scheint die Spannung etwas zu lindern. Der Gesichtsausdruck des Fremden wirkt entspannter und er legt seiner Tochter die Hand auf die Schulter.
«Das sind Reisende aus Kelen, die nach dem Weg fragen. Nun, die Straßen sind soweit in Ordnung. Noch ist kein Schnee gefallen. Das kann sich aber nun jeden Tag ändern. Wo liegt euer Ziel?»
«Wenn ich das genau wüsste, wäre die Reise einfacher. Ein Freund erwartet uns am Fuß der alten Feuerberge. Ist es noch weit bis dahin?»
«Das ist ein langer Weg. Aber ihr könnt dem Fluss folgen, er bringt euch unweigerlich zu den Bergen. Ihr könnt sie in einem Viertel Mond erreichen, wenn ihr schnell reitet und euch nicht vor den Geistern fürchtet.»
Onish zieht die Augenbrauen hoch. Langsam und vorsichtig lässt er seinen magischen Schutzbann sinken und konzentriert sein Talent auf die Ausstrahlung seines Gegenübers. Der Mann wirkt ehrlich und aufrichtig, zurückhaltend Fremden gegenüber, aber das scheint in dieser Gegend üblich zu sein. Zudem scheint ihn eine Sorge zu belasten. Spontan tritt Onish einen Schritt näher und streckt eine Hand aus.
«Ich bin Onish aus Atara, meine Begleiterin ist Kej aus Nirah. Wir waren beide noch nie in dieser Gegend. Von welcher Art Geister sprichst du?»
«Mein Name ist Laon. Nun, die meisten Reisenden meiden diese Gegend. Es gibt hier nicht viel, was ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber manche, die die Feuerberge besucht haben, erzählen seltsame Geschichten. Einige behaupten, das Rumpeln der Erde hätte die alten, längst vergessenen Berggeister aufgeweckt und sie würden nun wieder durch die Täler streifen. Aber vermutlich ist das alles nur Geschwätz. Tut mir leid, ich hätte das nicht erwähnen sollen, ich wollte dich nicht erschrecken.»
Er blickt seiner Tochter nach, die sich seinem Griff entwunden hat und nun vor Kej steht. Neugierig starrt sie die junge Frau an.
«Dein Haar ist ganz rot.»
«Bist du sicher? Das ist mir bis jetzt gar nicht aufgefallen!»
Das kleine Mädchen legt den Kopf schief und nickt ernsthaft. Nun folgt auch ein älterer Junge seiner Schwester. Er pflanzt sich selbstsicher vor Kej und den Pferden auf.
«Ihr Haar ist rot, weil sie aus Nirah kommt. Kann ich auf deinem Pferd reiten?»
Kej kann ihr Lachen nicht länger unterdrücken. Onish beobachtet, wie sie den Jungen in den Sattel hebt. Er strahlt übers ganze Gesicht. Natürlich will seine Schwester nun ebenfalls reiten. Bald wimmelt es auf dem kleinen Dorfplatz von Kindern jeden Alters und Kej hat alle Hände voll damit zu tun, sie zufriedenzustellen. Laons Frau tritt aus der Hütte, ihre jüngste Tochter auf dem Arm. Sie bleibt neben ihrem Mann stehen, um dem Treiben zuzusehen. Deutlich spürt Onish, dass auch sie eine schwere Sorge trägt. Obwohl die Kinder und die wenigen Erwachsenen, die nun allmählich vor ihre Häuser treten, ärmlich gekleidet sind, sehen sie gesund und gut genährt aus. Hunger kann es also nicht sein. Onish wählt den direkten Weg.
«Ich sehe, dass euch beide etwas bedrückt. Kann ich helfen?»
Laons Augen weiten sich und seine Frau macht eine erschrockene Handbewegung. Onish schüttelt traurig den Kopf.
«Verzeiht. Ich wollte nicht eindringen. Ich denke, es ist besser, wenn wir weiterziehen.»
Er wendet sich ab und geht auf Kej zu, die ihm fragend entgegenblickt. Laons Stimme lässt ihn innehalten.
«Warte!»
Als Onish sich umdreht, senkt Laon den Blick.
«Ich weiß nicht, wer du bist und weshalb du fragst, ob wir Hilfe brauchen. Aber Dalish, der Vater meiner Frau ist krank. Wir wissen nicht, was wir noch für ihn tun können. Es gibt keinen Heiler in dieser Gegend.»
Onish nickt wortlos und holt seinen Beutel mit Kräutern und Heilmitteln aus der Satteltasche. Kej flüstert er zu, er werde nach einem Kranken sehen. Sie wendet sich wieder den Kindern zu, die nun darum bitten, die Geschichte ihrer Reise zu hören.
«Gut, ich werde euch eine Geschichte erzählen. Aber lasst mich zuerst die Pferde versorgen, sie sind müde. Helft ihr mir dabei?»
Dem fröhlichen Geschrei nach zu urteilen hat sie damit endgültig die Freundschaft der Kinderschar gewonnen. Onish ist froh, dass seine Begleiterin im Umgang mit Menschen mehr Erfahrung hat als er selber. Laon blickt ihm mit angespanntem Gesichtsausdruck entgegen. In den Augen seiner Frau glänzt so etwas wie Hoffnung. Sie duckt sich durch den Eingang und bedeutet dem jungen Mann, ihr zu folgen. Laon hält ihn am Ärmel zurück.
«Alanain hängt sehr an ihrem Vater. Kannst du ihm wirklich helfen?»
«Das weiß ich nicht, Laon. Aber ich werde tun, was in meiner Macht liegt. Das ist meine Aufgabe.»
«Wieso? Du bist zu jung für einen Heiler.»
«Bin ich das? Vielleicht. Aber ich bin hier und ältere oder erfahrenere Heiler sind es nicht. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich etwas tun kann, aber ich will es wenigstens versuchen. Darf ich?»
Beschämt senkt Laon den Blick und gibt Onish den Weg frei. In der Hütte ist es dunkel, nur das Herdfeuer in der Raummitte und eine Öllampe geben etwas Licht. Laons Frau, Alanain, kniet neben einem der niedrigen Bettstelle an der Rückwand des einzigen, kreisrunden Raums. Hoffnungsvoll blickt sie Onish entgegen. Der junge Schattenwandler sieht sich in der Hütte um. Sie ist ordentlich aufgeräumt, unter dem Dach gibt es Ablagen für Werkzeuge, Geräte und Vorräte. Der Boden ist mit handgewebten Teppichen ausgelegt. Onish tritt zu Alanain und kniet neben ihr nieder. Auf dem Bett liegt ein hagerer Mann. Sein Gesicht ist eingefallen, seine Augen sind geschlossen und sein Atem geht mühsam. Als Onish ihm eine Hand auf die Stirn legt, um seine Temperatur zu prüfen, schüttelt starker Husten den Kranken.
«Ist er schon lange so? Er hat Fieber und der Husten kostet ihn viel Kraft.»
«Es begann vor einigen Tagen. Er stürzte beim Fischen und fiel in den Fluss. Er muss sich erkältet haben. Aber so schlimm habe ich es noch nie erlebt.»
«Ich denke auch, dass es eine Erkältung ist. Aber der Husten gefällt mir nicht. Hast du Sillai-Tee?»
«Sillai, das ist die Mondblüte, nicht wahr? Ich habe davon gehört, aber noch nie davon gekostet. Ich glaube nicht, dass es die Pflanze in unserer Gegend gibt.»
«Schade. Ich habe etwas dabei, aber das wird nicht weit reichen. Was besitzt du sonst an Kräutern?»
Während Onish aufmerksam zuhört und mit Alanain bespricht, wie sie Dalish behandeln kann, öffnet dieser die Augen. Schweigend lauscht er den Worten des Schattenwandlers. Als Alanain sich schließlich an der Herdstelle zu schaffen macht um Wasser aufzusetzen, stellt er Onish mit heiserer Stimme eine Frage.
«Wie kommt es, dass sich ein Schattenwandler in diese abgelegene Gegend verirrt?»
«Ich folge einem Ruf. Woher weißt du, dass ich ein Schattenwandler bin?»
«Ich habe nicht mein ganzes Leben in diesem Tal verbracht. So wie du sprichst, verstehst du etwas von der Heilkunst. Und du erinnerst mich an Schattenwandler, die ich im Lauf der Jahre und vieler Kriege getroffen habe.»
Ein Hustenanfall schüttelt Dalish. Onish stützt seinen Oberkörper, bis er sich beruhigt. Dann legt er ihn sanft zurück auf sein Kissen.
«Es gibt nicht viele Schattenwandler in der Gilde ...»
«Der letzte, den ich sah, war Jakrim. Ich bin ihm in Linar begegnet.»
«Du warst in Linar. Hast du auch die Königin der Nacht kennengelernt?»
«Silàn. Ja, ich habe sie und ihre Drachen gesehen. Seither weiß ich, dass die Legenden wahr sind.»
Er lässt sich müde zurücksinken und schließt die Augen. Alanain tritt mit einem Krug heißen Wassers zum Krankenlager. Onish sucht seinen Vorrat an Sillai hervor. Mondblüte ist eine seltene Pflanze und er bedauert nun, dass er nicht mehr davon besitzt. Sorgfältig mischt er etwas in einen Becher mit Tee. Er achtet darauf, dass Alanain genau zusieht, wie er es macht und hält den Becher an die Lippen des Kranken. Dieser trinkt langsam und atmet dann tief durch. Onish nimmt die Gelegenheit wahr, das Gespräch fortzusetzen.
«Du sagst, dass du seit Linar weißt, dass die Legenden wahr sind. Welche Legenden?»
«Die Geschichten über die Drachen und andere Wesen der Nacht. Seitdem kann ich auch an die Berggeister glauben.»
«Darüber musst du mir mehr erzählen. Aber ruh dich zuerst etwas aus. Ich möchte nach meiner Begleiterin sehen.»
Alanain deckt ihren Vater sorgsam zu und tritt mit Onish vors Haus. Laon steht mit Kej bei den Pferden, die inzwischen in einer kleinen Koppel untergebracht sind. Die beiden sind in ein angeregtes Gespräch vertieft. Alanain lächelt als sie die Hand ihres Mannes nimmt. Ihre Stimme ist bestimmt.
«Ihr beide werdet heute hier schlafen. Das ist das mindeste was wir euch als Dank für eure Hilfe anbieten können.»
Onish ist unentschlossen. Er möchte eigentlich weiterziehen und so rasch wie möglich wieder zu Talisha stoßen. Andererseits wird es bald dunkel, weit würden sie an diesem Abend nicht mehr kommen. Zudem möchte er zu gern mehr über diese Berggeister erfahren. Deshalb erwidert er Kejs erwartungsvollen Blick mit einem Nicken. Talisha wird sie morgen bestimmt rasch wiederfinden.
«Also gut. Aber morgen müssen wir früh aufbrechen.»
Während Alanain eine Mahlzeit zubereitet, beschäftigt sich Kej mit den drei Kindern, die ihr stolz ihre aus Holz geschnitzten Herdentiere zeigen. Laon nimmt Onish beiseite.
«Alanain sagt, du seist ein Schattenwandler?»
«Nun, ich habe zumindest diese Ausbildung erhalten. Jakrim meint, meine Ausbildung sei abgeschlossen. Also wird es so sein.»
«Jakrim von der See. Mein Schwiegervater hat von ihm erzählt. Er ist ihm begegnet, als er damals an meiner Stelle dem Kriegsruf folgte. Alanain hatte gerade unser erstes Kind geboren und war nicht in der Lage, die Herde allein zu versorgen.»
Er wirft einen Blick auf den friedlich schlafenden Kranken, dessen Brust sich nun in regelmäßigen Atemzügen hebt und senkt.
«Danke, dass du ihm mit deiner Magie geholfen hast.»
«Keine Magie, nur normale Heilkunst und die richtigen Kräuter. Es wird noch viele Tage dauern, bis er gesund ist. Ich hoffe, mein Vorrat an Sillai reicht aus.»

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt