Pläne
Ranoz mustert nachdenklich die Eier, die zwei junge Hrankaedí inzwischen so gut wie möglich von Schnee und Asche befreit haben. Ihre Oberfläche leuchtet in warmen Rot- und Orangetönen. Die Farben wirken zunächst wie zufällige Sprenkel, beim näheren Betrachten fließen sie aber ineinander, bilden seltsam bewegte Muster, die Ranoz an glühende Kohlen in einem heruntergebrannten Feuer erinnern. Aber die Färbung der Eier ist nicht das, was ihn heute beschäftigen darf.
Ein kurzer Blick zu Noak bestätigt, dass diese seine Besorgnis teilt. Die kostbaren Dracheneier lassen sich nur mit großem Aufwand von hier wegbringen. Sie sind zu groß und zu schwer, um sie tragen zu können. Außerdem weiß niemand, was sie alles aushalten können. Möglicherweise schadet ihnen die Kälte, vielleicht sind sie empfindlich auf Bewegung oder Berührung.
Der Älteste der Hrankaedí kennt niemanden, der ihnen Ratschläge zum Umgang mit Dracheneiern geben könnte. Schon zu lange gehören die stolzen Shahraní ins Reich der Legenden. Aber Ranoz weiß, dass sie keine Zeit verlieren dürfen. Der Shalen des Feuerkults, der auf der Suche nach den Eiern ist, lagert laut der Rückmeldung der Hrankaedí-Späher nur noch wenige Tagesreisen von hier entfernt. Ranoz weiß auch, dass sich hinter dem Shalen und seinem Wagenzug Onish und eine Gruppe von Kriegern nähern. Er ist sich zudem fast sicher, dass die Krieger von Pentims oberstem Feldherrn persönlich angeführt werden. Ranoz und Noak lernten den Mann im Grasland von Linar kennen. Zwischen ihm und dem Schattenwandler A'shei entwickelte sich damals eine tiefe Freundschaft. Die beiden stehen immer noch in Kontakt miteinander. Ranoz ist deshalb geneigt, in Liha einen potentiellen Verbündeten zu sehen, auch wenn es für die Drachenschatten keine Möglichkeit gibt, direkt mit den Menschen zu kommunizieren. Das Ganze sähe anders aus, wenn Silàn oder A'shei hier wären. Nun, vielleicht können der junge Schattenwandler Onish und seine rothaarige Freundin hier weiterhelfen. Immerhin ist die weiße Wölfin Talisha wieder unterwegs zu den beiden. Wenn es ihnen mit Lihas Hilfe gelingt, den Shalen aufzuhalten, besteht vielleicht noch Hoffnung.
Ranoz' Aufgabe ist klar. Er muss mit seinen Hrankaedí so rasch wie möglich die Eier der Shahraní in Sicherheit bringen. Diese Nacht ist noch jung, aber er weiß, dass sie dringend handeln müssen. Er wendet sich entschlossen an seine älteste Verbündete.
«Noak, denkst du, wir könnten die Eier in Trageschlingen transportieren? So dass immer zwei oder sogar vier von uns zusammen eines anheben könnten?»
Noak betrachtet nachdenklich die Eier und berührt eins davon sanft mit ihrer Klaue.
«Das könnte funktionieren. Woraus sollen wir die Schlingen machen?»
«Wir könnten in Silita-Suan große Decken oder Felle holen, vielleicht auch Netze. Außerdem würden wir Seile benötigen.»
Noak nickt. Sie weiß, wie weit es bis Silita-Suan ist. Nur sie und Ranoz sind groß und stark genug, um den Flug noch diese Nacht zu schaffen. Das bedeutet, dass sie die jungen Hrankaedí mit den Eiern der Shahraní allein lassen müssen. Das widerstrebt ihr zutiefst. In Ranoz' Augen kann sie lesen, dass es ihrem alten Gefährten ähnlich geht. Aber sie sieht keine andere Möglichkeit. Sie können nicht in irgendeiner menschlichen Siedlung nach Material für diesen heiklen Transport fragen. Wenn sie sich beeilen, sollten sie zurück sein, bevor der Shalen bis zu den Eiern vordringen kann. Sie ist zuversichtlich, dass die jungen Drachenschatten die Eier nachts beschützen können. Aber was geschieht, wenn der Feuermagier den Shatosh tagsüber erreicht?
Bevor Noak ihre Befürchtungen in Worte fassen kann, spürt sie eine vertraute Präsenz. Ein Blick zu Ranoz bestätigt ihr, dass er den Besucher ebenfalls bemerkt hat. Die jungen Hrankaedí machen erschrocken Platz, als sich ein dichter dunkler Schatten in die Nähe der Mulde schiebt. Keines von ihnen hat jemals mit einem Ijenkae, einer großen Dunkelheit zu tun gehabt. Ranoz' Lächeln ist hoffnungsvoll. Aber er überlässt es wie gewohnt Noak, das Gespräch zu führen. Sie stammt aus Eshekir, wo die meisten dieser scheuen Wesen leben. Die Ijenkaedí sind das älteste der Völker der Nacht. Ihre Erinnerungen reichen viel weiter zurück als jene der Hrankaedí, möglicherweise sogar bis in die Zeit der Shahraní. Vielleicht gibt es doch jemanden, der ihnen in Beziehung auf die Dracheneier raten kann?
Noak blinzelt mit ihren blassgoldenen Augen und faltet sorgfältig ihre Flügel, bevor sie das Ijenkae mit einem Gedankenbild begrüßt. Sie sendet ihm Freundschaft, Willkommen und die Frage nach seinem Befinden. Ranoz ist überzeugt, dass Noak die einzige ist, die diese Art von Gedankenaustausch fließend beherrscht. Gespannt wartet er auf die Antwort des Ijenkae. Einige Bilder sind für ihn klar, trotzdem ist er froh über Noaks Übersetzung.
«Es bringt Grüße von Silàn von Silita, der Königin. Es ist hier, um uns mit den letzten Kindern der Shahraní zu helfen.»
«Bitte zeig ihm, dass wir uns freuen, dass es hier ist. Und frage es, was es uns über die Shahraní sagen kann.»
Mit in Konzentration gerunzelter Stirn verfolgt Ranoz den Gedankenaustausch zwischen Noak und dem Ijenkae. Die Gedankenbilder wechseln in rascher Folge, als die große Dunkelheit in hoher Geschwindigkeit all ihr Wissen über die Shahraní an Noak übermittelt.
DU LIEST GERADE
Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...