Onish 1-8 Befürchtungen

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Befürchtungen

Als Dánan erwacht, hört sie Dánirah in der Küche. Die Wahrträumerin muss früh aufgestanden sein, vielleicht noch tief in der Nacht. Ob sie wohl diesen Traum hatte, vor dem sie sich so fürchtete? Dánan zieht sich an, um ihrer Besucherin bei der Zubereitung des Frühstücks zu helfen. Als sie die Küche betritt, stellt sie fest, das auch Miràn bereits wach ist. Das Mädchen hat fast wieder eine gesunde Farbe und lächelt zu Dánirah auf, die ihm die Haare in ein kompliziertes Zopfmuster flicht. Dánan drückt ihre Bewunderung für die Frisur aus und nimmt das kochende Wasser vom Feuer.
«Ihr beide seid schon richtig munter. Habe ich verschlafen, oder seid ihr so früh aufgestanden?»
Dánirah lächelt scheinbar fröhlich. Dánan erkennt, dass die Wahrträumerin für Miràn ein betont munteres Gesicht aufsetzt. In ihren Augen glaubt sie tiefe Besorgnis zu lesen. Dánan schüttet Teekräuter ins Wasser und rührt Teig für Fladenbrot an. Sie vermutet, dass Dánirah noch heute abreisen wird. Die Wahrträumerin bestätigt das wortlos, nachdem sie Miràns Zopf beendet. Sie sammelt ihre wenigen Habseligkeiten ein und packt sie in ihr Bündel. Miràn sieht verständnislos zu.
«Gehst du weg, Dánirah?»
«Ja, meine Zeit ist gekommen. Ich hatte letzte Nacht einen Traum, der mich weiterschickt. Wirst du hier bei Danàn warten, bis ich zurückkomme? Sie ist dann nicht so allein und kann dich in der Zwischenzeit viele Dinge lehren.»
Miràn scheint unentschlossen. Sie gewöhnte sich in den letzten Tagen an die beiden Tannarí-Frauen und baute Vertrauen auf. Offensichtlich würde sie vorziehen, wenn der kleine Haushalt erhalten bliebe. Dann erinnert sie sich mit gerunzelter Stirn an ihr Versprechen.
«Ich habe Onish versprochen, auf Dánan aufzupassen.»
Miràns Stimme ist fest. Die Frauen blicken sich überrascht an. Inzwischen ist Dánans Brot fertig. Sie stellt es zusammen mit einem Korb voller Früchte auf den Tisch. Während dem Frühstück wird kaum gesprochen. Die Schattenwandlerin will ihren Gast nicht nach ihrem letzten Traum fragen. Sie weiß, dass Wahrträume nicht für alle Ohren bestimmt sind. Aber schließlich füllt Dánirah trinkt ihren Tee aus und seufzt hörbar.
«Ich hatte gestern noch einmal diesen Feuertraum, von dem ich euch erzählte. Diesmal war er leicht verändert. Die ersten beiden Bilder blieben gleich. Ich sah diesen von Flammen gequälten Kelen-Jungen und den großen Platz in einer Stadt, wo aufgeregte Menschen irgendwelche Gegenstände verbrannten. Aber das dritte Bild war diesmal anders. Ich glaube, dass ich den Mondbaum auf der Burg Silita-Suan erkannte. Ich war selber nur einmal dort, beim großen Mondfest anlässlich der Krönung von Silàn zur Königin der Nacht. Es war dunkel, zahlreiche Wesen der Nacht waren versammelt, darunter Drachenschatten und Silàn selbst. Einen Moment lang glaubte ich, das Mädchen mit dem roten Haar zu sehen. Aber das Bild war düster und es passierte zuviel gleichzeitig. Ich bin mir aber sicher, dass Winter war, auf den kahlen Ästen des Baums im Hintergrund lag Schnee. Danach folgte der Traum dem alten Muster. Aus den kahlen Felsen einer Gebirgslandschaft stiegen Flammensäulen und zuletzt zogen Drachen über einen roten Himmel.»
Dánan lässt sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Sie schenkt Miràn bedächtig Tee nach, bevor sie ihre Frage stellt.
«Und, was schließt du daraus?»
«Ich werde nach Penira gehen. Ich will wissen, was es mit diesem Feuerkult auf sich hat. Und danach ... Es mag sein, dass mein Weg mich ins Silitatal führt.»

~ ~ ~

Pentim erwacht zum ersten Mal seit Tagen einigermaßen erfrischt und ausgeschlafen. Mit einem unterdrückten Gähnen wirft er einen Blick zum Fenster. Der Himmel ist bereits hell, die Sonne wirft erste Strahlen über die taufeuchten Dächer von Penira. Der Sonnenkönig steht leise stöhnend auf und massiert sich das Kreuz. Er schlief schon wieder in einem der unbequemen Sessel, anstatt sich ins Bett zu legen. Kein Wunder hat er jeweils morgens Rückenschmerzen. Leise tritt er ans Bett seiner Frau. Fanlaita schläft friedlich. Offenbar verbrachte auch die Königin endlich einmal eine ruhige Nacht. Pentim streckt die Hand aus, um ihr eine Strähne des hellblonden Haars aus dem Gesicht zu streichen. Aber er zögert, bevor seine Finger die Haut seiner Gattin berühren. Fanlaita braucht allen Schlaf, den sie bekommen kann. Er will sie auf keinen Fall aufwecken.
Statt dessen tritt der König an das Bett seines Sohnes. Mirim sieht heute besser aus, etwas Farbe ist in seine Wangen zurückgekehrt und seine kleine Brust hebt sich regelmäßig mit tiefen Atemzügen. Die Behandlung des Magiers scheint eine positive Wirkung zu zeigen. Pentim bleibt einen Moment am Krankenbett stehen. Die Besserung bei Mirim hat gerade erst begonnen, aber zumindest besteht wieder Hoffnung. Der König verlässt leise das Zimmer, um nach seiner Tochter zu sehen. Talai erwacht, als seine Schritte ein Bodenbrett zum Knarren bringen. Das Mädchen blinzelt ihn verschlafen an, bevor es seine Arme ausstreckt. Auf seinem Gesicht spiegelt sich freudige Überraschung.
«Papa!»
Der Sonnenkönig beugt sich über das kleine Bett und schließt seine Tochter in die Arme. Er atmet den Geruch ihres Haares ein und spürt, wie ein Stück der Anspannung von ihm abfällt. Talai windet sich entschlossen aus der Umarmung.
«Papa, du stichst!»
«Da hast du sicher recht. Ich werde sehen müssen, was sich dagegen machen lässt. Es geht natürlich nicht an, dass mein Bart dich ohne Erlaubnis sticht.»
Pentim lächelt und fährt sich mit der Hand durch seinen zerzausten Bart. Es ist wirklich Zeit, dass er sich mehr um sein Äußeres kümmert. Vielleicht, wenn es Mirim wirklich besser geht ... Pentims Freude über die Verbesserung der Gesundheit seines Sohnes ist wie weggeblasen, als ihm einfällt, welchen Preis er dafür bezahlt. Er streicht Talai gedankenverloren durch das goldene Haar, das sie von ihm geerbt hat. Sie scheint seinen plötzlichen Stimmungswandel zu spüren und mustert den Vater mit schräg gelegtem Kopf.
«Bist du traurig, Papa?»
«Nein, nur in Gedanken. Ich glaube, heute geht es deiner Mutter und deinem Bruder besser. Wollen wir nachsehen, ob sie wach sind?»
Talai nickt eifrig und streckt die Arme aus, damit er sie hochheben kann. Pentim ist froh, dass sie sich so leicht ablenken lässt. Sie ist noch zu klein, um an seinen Sorgen mitzutragen. Er trägt seine Tochter auf dem Arm zurück ins Zimmer seiner schlafenden Frau und setzt sich mit ihr an deren Bett. Fanlaita öffnet langsam die Augen. Es dauert einen Moment, bis ihr Blick an Pentim und Talai hängen bleibt. Das Mädchen betrachtet die Mutter ängstlich. In letzter Zeit war sie oft unzugänglich und fast schroff. Auch heute hat sie für ihr jüngstes Kind nur einen kurzen Blick und ein schmales Lächeln übrig.
«Pentim. Wie geht es ihm?»
«Besser. Er hatte eine ruhige Nacht. Wie geht es Dir?»
Fanlaita nimmt sich nicht die Zeit, die Frage zu beantworten. Mit einer einzigen Bewegung steht sie auf und stürzt eilig hinüber ans Bett ihres Sohnes. Pentim folgt ihr, Talai immer noch im Arm. Er streicht ihr beruhigend übers Haar. Mirim schläft noch. Die Königin legt dem Jungen vorsichtig die Hand auf die Stirn. Das Lächeln, das sie danach ihrem Mann und ihrer Tochter schenkt, ist so strahlend, wie beide es schon lange nicht mehr gesehen haben. Sie tritt rasch zu Pentim um ihn zu umarmen. Dabei drückt sie ihrer Tochter einen liebevollen Kuss auf die Stirn. In diesem Moment besteht für den Sonnenkönig kein Zweifel, dass seine Entscheidung richtig war. Alles andere wird sich geben müssen.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt