Onish 3-1 Berater des Königs

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Drittes Buch

Kinder des Feuers

Berater des Königs

Onish reibt sich zum wiederholten Mal die tränenden Augen und versucht, im eintönigen Weiß der Schneeverwehungen die Fortsetzung des Weges zu erkennen. Leise seufzend zieht er sich den dicken Schal enger ums Gesicht. Obwohl er diese karge Berglandschaft liebt, hat er für sein Empfinden inzwischen genügend Nächte im Schnee verbracht und würde gerne wieder einmal unter einem festen Dach übernachten. Schnaubend bleibt Hama neben dem gescheckten Hengst des Schattenwandlers stehen. Seit einigen Tagen nennt Onish ihn respektvoll Dai. Das bedeutet ‹hart› und bezieht sich auf sein unglaubliches Durchhaltevermögen. Kej nahm den Namen mit einem Lächeln zur Kenntnis, als ein Zeichen dafür, dass Onish sich nach so langer Zeit doch noch mit seinem Pferd anfreunden konnte. Nun schiebt sie sich ihren alten Hut aus dem Gesicht und grinst den Schattenwandler an.
«Der Wind hilft uns. So gut sind wir schon lange nicht mehr voran gekommen.»
«Ja, wenn man davon absieht, dass wir gerade einen riesigen Umweg machen. Wenn wir über den Miraipass hätten reisen können, wären wir schon längst im Silitatal.»
«Ich denke, es war vernünftig, das nicht zu versuchen.»
Onish nickt. Sie haben diese Diskussion schon mehrmals geführt. Er weiß genau, dass der Pass von Mirai in dieser Jahreszeit nicht passierbar ist, weder zu Fuß noch zu Pferd. Trotzdem ärgert es ihn, dass sie mehr als einen Mond Umweg in Kauf nehmen müssen, um Silàns Ruf zu folgen. Ungeduldig treibt er sein Pferd wieder an. Sie müssen heute noch eine besser geschützte Stelle erreichen, um die Nacht zu verbringen. Er fragt sich, wo Talisha steckt. Die Wölfin ist seit den frühen Morgenstunden allein unterwegs, auf der Jagd. Er weiß genau, dass er und Kej auf ihre Führung und Hilfe angewiesen sind, wenn sie im Winter in diesen Bergen nicht nur überleben sondern auch vorankommen wollen.
Tapfer kämpfen sich die beiden Pferde durch die Verwehungen voran. Kej hat recht, der kräftige Wind, der über die Passhöhe pfeift, hat den meisten Schnee beiseite gefegt, so dass sie reiten können statt mühsam für die Tiere eine Spur zu bahnen.
Endlich erreichen sie die ausgesetzte Höhe eines namenlosen Passes. Vor ihnen liegt der sanfte Abstieg in ein breites Tal. Es sieht so aus, als hätten sie für den Moment das Schlimmste hinter sich. Kritisch mustert Onish den grau verhangenen Himmel. Er hofft, dass diese Wolken nicht schon wieder neuen Schnee bringen. Einen Moment lang glaubt er, aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung wahrzunehmen. Angestrengt versucht er, zu erkennen, um was es sich handelt. Aber er muss sich getäuscht haben. Er will gerade mit einem Brummen Dai antreiben, um endlich diese kalte Höhe hinter sich zu lassen, als ihm auffällt, dass Kej mit zusammengekniffenen Augen etwas weiter unten am Hang fixiert.
«Was ist, kannst du etwas erkennen?»
«Ich habe eine Bewegung gesehen, dort links bei dem großen Felsen. Ich glaube das ist Talisha.»
«Deine Augen sind besser als meine. Ich glaubte vorhin auch, etwas zu sehen. Aber nun finde ich es nicht mehr.»
Kej treibt Hama an und übernimmt die Führung. Bald stellt sich heraus, dass sie recht hatte. Die weiße Wölfin wartet bei einem großen Felsen auf die beiden Reiter. Vor ihr im Schnee liegt ein blutiges Bündel, ihre Jagdbeute. Sie begrüßt ihre Freunde mit entblößten Zähnen, einem Wolfslächeln. Onish empfindet Erleichterung.
«Talisha. Ich bin froh, dass du zurück bist. Ich glaube, es wird Zeit, einen Platz für die Nacht zu finden. Diese Wolken gefallen mir nicht.»
Die Wölfin wirft einen kurzen Blick zum Himmel und nimmt dann ohne Zögern ihre Beute auf. Zielstrebig setzt sie sich in Bewegung. Onish und Kej folgen wortlos. Sie wissen aus langer Erfahrung, dass Talisha am Besten weiß, was in solchen Situationen zu tun ist.

~ ~ ~

Die Tore der strahlenden Stadt stehen noch offen, allerdings hat der Strom der Menschen, die Penira heute noch betreten oder verlassen wollen, bereits stark nachgelassen. Pünktlich zum Sonnenuntergang werden die Stadtwachen die Tore schließen. Danach kann bis zum nächsten Sonnenaufgang niemand mehr Pentims Hauptstadt betreten.
Eine mitgenommen aussehende Truppe von gut zwei Dutzend Männern erreicht das Westtor von Penira als allerletzte Gruppe an diesem kalten Winterabend. Die Wächter sind schon dabei, die schweren Torflügel zuzuschieben, als ein Hauptmann der Wache sie zunächst zögernd innehalten lässt. Der Veteran glaubt, einen der dick vermummten Reiter zu erkennen, an seiner Rüstung, wenn nicht an der aufrechten Haltung. Die beiden jungen Gardisten an seiner Seite werden nervös. Sieht der Hauptmann denn nicht, dass das eine Truppe schwer bewaffneter Krieger ist, die da auf das Tor zureitet?
Auf dem gefurchten Gesicht des alten Mannes breitet sich ein hoffnungsvolles Lächeln aus. Seit vielen Monden muss er zusehen, wie in seiner geliebten Stadt Penira die Gegner des Sonnenkönigs immer mehr Macht gewinnen. Bei den Mittwinterfeuern wurden von Anhängern des Feuerkultes auf einem Platz in der Oberstadt öffentlich Porträts des Königs verbrannt. Natürlich zerstreuten sich die Kultanhänger, bevor Pentims Garde zur Stelle war und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen konnte.
Zum ersten Mal seit diesem Ereignis erlaubt sich der alte Hauptmann heute wieder Hoffnung. Denn der Mann, der da an der Spitze einer Handvoll mitgenommener Krieger auf das Stadttor zureitet, ist vielleicht der einzige, der den jüngsten Entwicklungen entgegenwirken kann. Verunsichert blicken sich die neu hinzugeeilten Torwächter an, als die zerlumpt aussehenden Männer näher kommen. Energisch gebietet ihnen der Hauptmann, zurückzutreten und die Waffen zu senken. Müde aber hoch aufgerichtet und stolz reiten die Krieger durch das Tor. Der Wachhauptmann grüßt ihren Anführer achtungsvoll.
«General, willkommen in Penira.»

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt