Silàn und A'shei
Kej verspürt unendliche Erleichterung, als sich die mächtige Zugbrücke knarrend senkt und ihnen den Zugang zur Burg freigibt. Sie ist müde, nass und völlig durchgefroren. Am Nachmittag setzte erneut Schneefall ein und jetzt, gegen Abend, wird es empfindlich kalt. Seit einer Weile schmerzt auch ihr Bein wieder. Obwohl Kej sich Mühe gibt, sich nichts anmerken zu lassen, muss sie insgeheim zugeben, dass Onish, Hama und Daj die winterliche Reise wesentlich besser überstanden haben als sie selber. Von Talisha will sie gar nicht sprechen. Die weiße Wölfin blühte im Schnee und der Kälte richtiggehend auf. Sie war ständig auf der Jagd, suchte unermüdlich den besten Weg oder legte eine Spur für die Pferde.
Und nun, da die schwere hölzerne Brücke mit einem dumpfen Knirschen auf ihr Widerlager sinkt, steht Talisha mit hoch erhobenem Haupt und blitzenden Augen im Burgtor. Sie wird von einem bärtigen Mann in einem dicken Wintermantel begleitet. Die Kapuze hat er zurückgeschlagen, so dass sein blondes Haar zu sehen ist, das ihm bis auf die Schultern fällt. Kej ist etwas überrascht. Sie erwartete nicht, auf der Burg der berühmten Königin der Nacht einen Kelen anzutreffen. Aber Onish schwingt sich ohne mit der Wimper zu zucken von Daj und sie folgt seinem Beispiel. Sie führen die Pferde am Zügel über die Brücke. Die Hufschläge hallen auf den dicken Holzbalken dumpf wieder und klappern dann über das Pflaster des Toreingangs. Talisha begrüßt Onish freudig. Er legt ihr eine Hand auf den Kopf. Der Fremde nickt freundlich.
«Willkommen auf Silita-Suan. Mein Name ist Fjenis, ich grüße euch im Namen der Königin. Talisha hat euch angemeldet. Eure Zimmer sind vorbereitet.»
«Danke, Fjenis. Ich bin Onish aus Atara und das ist Kej aus Nirah. Königin Silàn hat uns zu sich gebeten.»
«Ich habe davon gehört. Aber kommt, zuerst sollt ihr ein heißes Bad und trockene Kleider bekommen. Silàn wird euch nach Sonnenuntergang empfangen.»
Kej lächelt den Mann dankbar an. Nach einem Bad sehnt sie sich seit mehr als einem Mond. Im Moment kann sie sich nichts vorstellen, was ihr lieber wäre.Onishs Zimmer liegt im zweiten Stock eines stattlichen Gebäudes im oberen Hof. Zwei schmale Fenster in der dicken Außenmauer der Burg bieten einen wunderbaren Ausblick nach Westen, hinaus in die Berge von Eshte. Der Raum ist fast so groß wie Dánans Hütte und einfach aber gemütlich ausgestattet. Ein gewebter Teppich aus dicker Wolle bedeckt den hölzernen Fußboden, ein Tisch und einige bequeme Stühle bestehen aus dunkel geöltem Holz. Die weiß gekalkten Wände lassen den Raum hell und freundlich wirken. Ein gestickter Wandbehang stellt einen großen Baum mit weit ausladenden Ästen dar. Onish vermutet, dass dies Silfanu ist, der Mondbaum, das Wahrzeichen des Hauses Silita. Die Abgeschiedenheit des geschlossenen Raums kommt dem Schattenwandler nach so langer Zeit unterwegs seltsam vor. Er deponiert seine wenigen Besitztümer neben dem behaglich anmutenden Bett und macht sich auf den Weg zum Baderaum, den Fjenis ihm gezeigt hat.
Als Onish schließlich frisch gebadet und in sauberen Kleidern sein Zimmer verlässt, weiß er nicht, wohin er sich wenden soll. Er klopft deshalb zunächst an Kejs Zimmertür, die direkt neben seiner eigenen liegt. Aber entweder ist sie noch nicht von ihrem Bad zurück oder sie schläft und hört ihn nicht. Deshalb geht er hinunter in den Hof, um sich umzusehen. Wo wohl Talisha steckt? Inzwischen ist es fast dunkel. Onish versucht, sich an alles zu erinnern, was Fjenis ihm bei der Ankunft erklärte. Die Burg Silita ist uralt und wurde unzählige Male umgebaut und erweitert. Sie liegt auf einem schräg ansteigenden Felssporn. Das Burgtor führt auf den untersten Hof. Dort liegen die Ställe, Unterstände für Wagen und großen Vorratsräume. Von da führt ein weiteres Tor in den mittleren Hof hinauf, wo die meisten Einwohner von Silita-Suan leben. Onish erkannte im Vorbeigehen verschiedene kleine Handwerksbetriebe, darunter eine Schmiedewerkstatt und eine Töpferei. Vom mittleren Hof führt eine Treppe hinauf in den oberen Burghof. Dies ist das eigentliche Zentrum von Silita-Suan. Rings um den Hof sind die repräsentativen Räume angeordnet, aber auch Wohnräume, Gästezimmer und eine große Küche. Über dem Hof erhebt sich der mächtige Wohnturm der Königin der Nacht und dahinter liegt der sagenumwobene oberste Burghof, der Hof von Silfanu, dem Mondbaum. Dort sind nur wenige Besucher willkommen und Onish wagt nicht zu hoffen, dass er den Mondbaum selber zu sehen bekommt. Während er nachdenklich den mächtigen Turm betrachtet, nähern sich leichte Schritte. Er wendet sich zu der schlanken Frau um, die in einen warmen Wintermantel mit Kapuze gehüllt ist. Außer dem freundlichen Gesicht, einigen blonden Haarsträhnen und den Stiefelspitzen kann Onish nicht viel von ihr erkennen.
«Guten Abend. Du musst Onish sein. Verzeih, dass ich dich nicht früher begrüßt habe. Ich bin Hamain und eigentlich verantwortlich für das Wohlergehen unserer Gäste. Aber ich habe letzte Nacht der Königin geholfen und bin gerade erst aufgewacht. Hat mein Mann Fjenis dir deine Unterkunft gezeigt?»
«Ja, vielen Dank. Weißt du zufällig wo meine Begleiterin Kej oder Talisha stecken?»
«Wenn du die fröhliche rothaarige Dame meinst, die ist in der Küche dabei, den Kindern Geschichten zu erzählen. Komm mit, ich bringe dich zu ihr. Talisha ist vermutlich bei ihren Freunden im Hof des Mondbaums. Sie wird bestimmt später herunterkommen.»
Onish folgt der schlanken Kelen durch eine alte Holztür in einen großen, hell erleuchteten Raum. Die Küche der Burg ist eingerichtet, für zahlreiche Einwohner und Gäste Mahlzeiten zuzubereiten. Lange hölzerne Tische nehmen einen Teil des Raums ein. An der hinteren Wand gibt es verschiedene Herde und Öfen. Die Küche ist sehr hoch und hat keine richtige Decke. Zwischen rußgeschwärzten Balken ist die Unterseite des Dachs zu erkennen. Hamain legt ihren Mantel ab und weist Onish lächelnd zum Ende eines Tischs, bevor sie sich zu einer Köchin gesellt, die den Inhalt eines großen Topfs umrührt. Tatsächlich, da sitzt Kej umringt von einer Gruppe von Kindern, die sie eifrig mit Fragen bestürmen. Onish bleibt stehen und betrachtet einen Moment lang schweigend seine Reisegefährtin. Kejs frisch gewaschenes Haar hat seinen Sonnenglanz wieder gefunden. Ihre grünen Augen funkeln fröhlich und der Schattenwandler muss zugeben, dass er sie schon lange nicht mehr so unbeschwert lachen hörte. Die Reise war wirklich hart für seine Schülerin. Er hat ein schlechtes Gewissen wenn er daran denkt, wie er sie während des letzten Mondes unermüdlich vorantrieb, obwohl er von ihrer Erschöpfung wusste. Etwas verlegen nähert er sich dem Tisch. Aber Kej bemerkt nichts von seiner gedämpften Stimmung. Sie streckt eine Hand aus, um ihn am Ärmel näher zu ziehen.
«Das ist mein Freund Onish, von dem ich euch erzählt habe. Onish. Das sind Tanàn, Selai, He'sha und Hamiràn. Sie möchten gerne unsere Geschichte hören.»
Onish lächelt den Kindern freundlich zu. Zwei davon sind auffällig blond, das Haar der beiden anderen ist schwarz. Es ist nicht schwer zu erkennen, welches die Kinder von Silàn und A'shei sind. Die kleine Tanàn sieht ihrer Mutter sehr ähnlich. Onish versteht, dass Kej gerne die Geschichte ihrer abenteuerlichen Reise erzählen würde. Aber eigentlich sollte die Königin diese als erste hören. Er ist froh, dass Hamain ihn von der Pflicht entbindet, das den begierigen Zuhörern zu erklären.
«Nun, ich glaube, ihr habt unseren Gästen für heute Abend genug Fragen gestellt. Ihr werdet euch gedulden müssen, bis Silàn und A'shei sie begrüßt und ihren Bericht gehört haben. Geht euch die Hände waschen, das Essen ist gleich fertig.»
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...