Onish 2-4 Kej und das Kae

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Kej und das Kae

Kej und Onish finden den beschriebenen Weg zum Fluss ohne Probleme. Die Landschaft wird in der Nähe des Wassers sofort viel freundlicher, hier wachsen mehr Bäume und hohes Gras, das den Pferden zu schmecken scheint. Sie sind beide froh, die endlosen trockenen Steppen des nördlichen Lellai mit ihrem unablässigen Wind hinter sich zu lassen. Kej meint, an die Wärme könnte sie sich gewöhnen, aber auf den fliegenden Sand würde sie gerne verzichten. Onish findet es hier auf jeden Fall zu heiß, besonders wenn er daran denkt, dass in Atara um diese Zeit schon bald der erste Schnee fällt. Daran will Kej nicht erinnert werden. Onish findet aber nicht heraus, ob sie Heimweh nach Nirah und seinen harten Wintern verspürt, oder ob sie für ihr Leben genug Schnee gesehen hat. Er verzichtet darauf, weiter nachzubohren. Vermutlich wird er es früher oder später erfahren.
Wenige Tage nach der Querung des ersten kleinen Flusses erkennen sie von einem flachen Hügel aus ein großes Dorf, das genau dort liegt, wo die grünen Hügel in die flachen Steppen von Lellini übergehen. Ringsum erstrecken sich endlose Weiden, auf denen große Rinderherden grasen. Onish vermutet, dass sie endlich Geai erreicht haben und weiß zu erzählen, dass hier eine berühmte Schlacht stattfand. Es war die letzte bedeutende Schlacht in einer beinahe endlosen Kette von Kriegen zwischen den Ländern Kelèn und Lellini. Pentims Vater kam hier ums Leben und vererbte seinem damals noch sehr jungen Sohn die Königswürde über das Reich Kelèn. Das war aber lange bevor Onish geboren wurde, und er weiß darüber nur, was Antim ihm vor Jahren erzählte. Deshalb kann er Kejs neugierige Fragen nur bruchstückhaft beantworten. Stattdessen erzählt er ihr ausführlich von den Ereignissen im Grasland von Linar, das etwas südlich von Geai und jenseits des Flusses Selin beginnt. Damals flackerten die Streitigkeiten zwischen Kelèn und Lellini ein weiters Mal auf und führten fast zu einem neuen großen Krieg. Obwohl Onish nicht selber vor Ort war, berichtete ihm Dánan ausführlich von dem Beinahe-Krieg, der einzig durch das Einschreiten von Silàn und A'shei verhindert werden konnte. Dies war schon immer Onishs Lieblingsgeschichte und er erzählt sie so spannend, dass Kej beinahe glaubt, selbst dabei gewesen zu sein.
«Ich hätte zu gerne die Drachen gesehen. Es gibt so viele Legenden über sie, aber ich kenne niemanden, der selber einen gesehen hat.»
«Ranoz und Noak sind Hrankaedí, also Drachenschatten, Geschöpfe der Dunkelheit. Du kannst sie nicht wirklich sehen. Wie bei allen Wesen der Nacht erkennst du nur einen dunklen Schatten oder noch eher einen dichten schwarzen Nebel. Trotzdem sind sie sehr beeindruckend. Und wenn Ranoz spricht, vibrieren dir beinahe die Knochen. Vielleicht bekommst du Gelegenheit, ihn kennenzulernen, wenn wir nach Silita-Suan kommen.»
Kejs Augen funkeln erwartungsvoll. Onish denkt lächelnd daran zurück, dass sie noch vor wenigen Monden am liebsten nichts mit Magie zu tun haben wollte. Nun sehnt sie sich schon nach einer Begegnung mit Wesen der Dunkelheit.
Während dieses Gesprächs erreichen sie Geai, dessen Baustil sich von allem unterscheidet, was die beiden Reisenden bisher kennenlernten. Die niedrigen Häuser mit ihren flachen Dächern ducken sich zwischen die Hügel, als würden sie vor dem Wind Schutz suchen. Kej fragt sich, aus was die Gebäude bestehen.
«Das sind Lehmziegel. Aber frag mich nicht, wie sie gemacht werden. Ich weiß nur, was Dánan mir darüber erzählt hat.»
Die junge Frau grinst Onish an. Sie weiß längst, dass sie ihn mit ihrer grenzenlosen Neugier oft an den Rand der Verzweiflung bringt. Der Schattenwandler hat sich mit der endlosen Fragerei aber schon lange abgefunden. Und diesmal kommt ihm der Zufall zu Hilfe.
«Sieh mal, dort drüben am Fluss, ich glaube, so werden die Ziegel gemacht.»
Staunend beobachten die beiden, wie einige Männer und größere Kinder Schlamm mit Stroh vermischen und anschließend in langen Reihen von hölzernen Rahmen feststampfen. Diese bleiben an der Sonne stehen, offensichtlich zum Trocknen. Zwei braunhaarige Frauen in Kejs Alter sind dabei, die fertig getrockneten Ziegel aus den Rahmen zu lösen und aufzustapeln. Sie halten in ihrer Arbeit inne, um die beiden Reisenden aufmerksam zu mustern und kichernd hinter vorgehaltener Hand Bemerkungen auszutauschen. Mit ihren farbig bestickten Blusen und langen, dunklen Röcken wirken sie auf Kej sehr fremdländisch. Onish nickt ihnen freundlich zu und signalisiert seinem Pferd, weiterzugehen. Kej entgehen die Blicke nicht, welche die beiden jungen Frauen ihrem Begleiter nachschicken.
«Du hast da zwei hübsche Verehrerinnen gefunden.»
«Kaum, die beiden waren doch nur neugierig, so wie wir auch.»
Kej blickt ihn ungläubig an. Ist es möglich, dass er sich nicht bewusst ist, wie er mit seinen blonden Locken und den blauen Augen auf Mädchen wirkt? Nun, eigentlich sollte sie das bei Onish nicht mehr überraschen. Er wuchs immerhin in einem abgelegenen Tal allein mit seiner alten Lehrerin auf. Der Schattenwandler ist seit Lelai zudem so sehr auf seine Mission konzentriert, dass ihm oft die offensichtlichsten Dinge entgehen. Trotzdem ist Kej stolz darauf, seine Schülerin zu sein. Fasziniert beobachtet sie, wie er mühelos aus dem Wechsel von Licht und Schatten unter einigen Steppenbäumen am Rand des Dorfes die benötigte Magie sammelt, um seinen Schutzbann gegen den Gefühlsansturm zahlreicher Menschen aufzubauen. Als sie den großen zentralen Marktplatz von Geai erreichen, ist Onish nichts mehr von der Belastung anzumerken, die ihm noch in Ushar das Leben schwer machte.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt