Etim aus Honar
A'shei und Fjenis klopfen sich sorgfältig den Schnee von den Kleidern und ziehen die Stiefel aus, bevor sie Hamains Küche betreten. Beide wissen aus Erfahrung, dass die energische Kelen es nicht mag, wenn sie auf ihrem sauberen Fußboden Pfützen hinterlassen. Hamains Reich auf Silita-Suan ist mehr als ordentlich, die junge Frau hat den Betrieb fest in der Hand. Eigentlich steht die quirlige blonde Wirtschafterin im Mittelpunkt des Lebens auf der Burg. Ihr Mann Fjenis bildet einen ruhigen Gegenpol, hilfsbereit, praktisch veranlagt und gut im Umgang mit Menschen und Tieren. Obwohl zu Beginn von Silàns Herrschaft die Stammburg des Hauses mehr oder weniger eine verlassene Ruine war, leben nun wieder fast vier Dutzend Menschen hier. Fjenis und Hamain waren die ersten, die Silàn und A'shei nach Eshte folgten und maßgeblich am Wiederaufbau der Burg beteiligt waren. Einige der Handwerker aus dem Silitatal blieben nach dem Wiederaufbau und holten ihre Familien nach, weitere folgten später. Hamains Aufgaben und Verantwortung nahmen dadurch von Jahr für Jahr zu, aber das ist ihr nicht anzumerken. A'shei beobachtet lächelnd, wie sein alter Freund Fjenis seine Frau zärtlich in die Arme schließt und gleichzeitig seinem Sohn Selai die blonden Locken zaust. Hamain gibt Fjenis einen Kuss, wendet sich aber dann an A'shei.
«Silàn hat mich gebeten, dir zu sagen, dass sie zum Hof des Mondbaums hinaufgeht. Ich glaube, sie erwartet eine Botschaft.»
A'shei zieht fragend die Augenbrauen hoch, aber Hamain zuckt nur die Schultern. Mehr scheint sie nicht zu wissen. A'shei schlüpft wieder in seine Stiefel und nimmt seinen dicken Mantel vom Haken. Er könnte natürlich durch das Haus nach oben gehen, über die gedeckte Terrasse in seine und Silàns Räume und von dort aus in den Hof des Mondbaums. Aber wenn er sowieso nach draußen muss, kann er auch gleich die Treppe im oberen Burghof benutzen. Er nickt seinen Freunden kurz zu, bevor er wieder hinaus in die Kälte tritt und eilig die Tür hinter sich schließt. Draußen schneit es inzwischen noch heftiger. Die großen weißen Flocken bleiben an A'sheis Mantel hängen. Rasch zieht er sich die Kapuze über den Kopf. Im oberen Burghof liegt bereits knöcheltief Schnee, über Nacht wird es noch deutlich mehr werden. A'shei stört sich nicht daran. Er ist zwar Tanna, aber in den Bergen von Atara aufgewachsen. Er zieht Schnee bei weitem der herbstlichen Regenperiode vor. A'shei blinzelt mit silbernen Augen in die Flockenwirbel und erinnert sich etwas schuldbewusst daran, dass seine Eltern in einer solchen Winternacht umkamen. Dass er als kleines Kind überlebte, verdankt er nur dem Schattenwandler Antim, der ihn fand, bevor auch er erfror. A'shei glaubte lange Zeit, dass Antim zufällig auf die Familie stieß und ihn retten konnte. Aber inzwischen ist er überzeugt, dass der Schattenwandler die Magie spürte, die damals in dem jungen Tanna erwachte, und nur deshalb rechtzeitig zur Stelle war, um ihn mitzunehmen. Der ungekrönte König der Tannarí schiebt die traurigen Erinnerungen beiseite. Es ergibt keinen Sinn, deswegen den Schnee zu hassen.
Er hat das Ende der Treppe erreicht und legt die flache Hand auf die eisenbeschlagene Tür zum Hof des Mondbaums. Sie besteht aus uralten, schweren Holzplanken, die von Wind und Wetter fast weiß gebleicht sind. Die Pforte ist aber weder mit einem Schloss noch einem Riegel versehen, denn diesen Hof betritt nur, wer die ausdrückliche Erlaubnis der Königin der Nacht besitzt. Für A'shei öffnet sie sich beinahe geräuschlos, um sich hinter ihm sofort wieder zu schließen.
Silàn steht unter dem Mondbaum, die Kapuze zurückgeworfen, das silberne Haar fällt ihr lang über die Schultern. Sie beachtet die Schneeflocken nicht, die sich darin festsetzen. Vor ihr im Schnee kauert ein dunkler Schatten. A'shei tritt langsam näher. Seine Stiefel knirschen im Schnee. Silàn wendet ihm den Kopf zu. Ihre Augen leuchten silbern und sie streckt ihm eine Hand entgegen.
«A'shei! Gut, dass du kommst. Wir haben endlich Neuigkeiten von Ranoz und Noak. Das ist Luok, die gerade vom Shatosh zurückkommt.»
Beim Näherkommen löst sich der Schatten vor A'shei zur Form einer jungen Hrankae auf. Sie scheint erschöpft zu sein, obwohl die Nacht gerade erst begonnen hat. Müde blinzelt sie Silàn mit geschlitzten Drachenaugen an. A'shei tritt rasch näher. Die Stimme der Hrankae ist heiser und er muss sich anstrengen, um sie verstehen zu können.
«Ahranan, Sternenwanderer, der Älteste schickt mich mit Nachricht. Verzeiht, dass ich nicht schneller hier war. Ich bin so rasch geflogen wie ich konnte. Aber der andauernde Schnee machte mich langsam. Ich hoffte, Silita-Suan bereits in der letzten Nacht zu erreichen, musste dann aber vor dem Tageslicht Schutz suchen. Ahranan, der Älteste schickt mich, dir zu melden, dass wir die Eier der Shahraní gefunden haben.»
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Onish | Wattys 2015 Gewinner
FantasyDer junge Schattenwandler Onish soll sein abgelegenes Tal verlassen, um in der weißen Stadt Lelai seine Ausbildung abzuschließen. Als er unterwegs der Ausreißerin Kej begegnet, ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn und seine neue Bekannte bis ans nö...