Onish 1-15 Haonjit

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Haonjit

Sie erreichen den Haon über einen halben Mond später nach einer anstrengenden Reise durch die Flussebene. Die Straßen hier sind gut ausgebaut, aber staubig vom vielen Verkehr. Es ist nicht einfach, Essen zu finden. Oft sind sie auf die Gastfreundschaft der Inoirí angewiesen. Diese ist zum Glück großzügig und sie finden oft Gelegenheit, für eine Mahlzeit und ein Nachtlager einen halben Tag bei der Ernte zu helfen. Das verlangsamt natürlich ihr Vorankommen. Kej stört sich daran nicht, aber Onish verspürt seit der Begegnung mit dem Kae und der Trennung von Talisha eine Unruhe, die ihn vorantreibt.
Endlich sehen sie von einem flachen Grashügel aus zum ersten Mal den großen Fluss. Wie ein breites, schmutzigbraunes Band zieht er sich durch die Ebene. Kej ist enttäuscht. Sie kennt den Haon aus Nirah, wo er ein wild schäumendes, ungebändigtes kristallklares Wasser ist. Onish vermutet, dass die Regenfälle der letzen Tage für die braune Farbe verantwortlich sind. Aber das tröstet Kej nicht, die offensichtlich Heimweh nach ihren Bergen hat. Natürlich würde sie das Onish gegenüber nie zugeben, und er ist zu rücksichtsvoll, sie darauf anzusprechen.
Der nächste Tag ist der bisher schlimmste ihrer gemeinsamen Reise. Nachdem der Regen aufhört, brennt die Sonne aus einem tiefblauen Himmel auf die Sümpfe und lässt das Wasser verdampfen. Zahlreiche Mücken und andere Insekten plagen die Reisenden. Während der Mittagsrast mischt Onish, mit einigen Kräutern eine Salbe. Aber der Erfolg ist mäßig, die Salbe mildert zwar das lästige Jucken der Insektenstiche, verhindert aber nicht, dass sich die Blutsauger weiter auf ihre wehrlosen Opfer stürzen. Fast wünschen sie sich den Dauerregen der letzten Tage zurück. Es ist ein schwacher Trost, dass alle anderen Reisenden und ihre Tiere genauso leiden. Onish ist versucht, auf Kejs Vorschlag einzusteigen und es mit einer Insektenabwehr durch Schattenmagie zu versuchen. Aber die Straße ist so belebt, dass er fürchtet, unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Gegen Abend erreichen sie Haonjit, was soviel heißt wie ‹der ewige Hafen›, aber vermutlich bedeutet der Name nur ‹Hafen am Haon›. Der Ort ist mindestens so groß und eindrücklich wie Ushar, wenn auch in keiner Weise damit vergleichbar. Statt aus weiß getünchten Häusern und gepflegten Gärten besteht das Dorf am Fluss aus verwitterten Holzhäusern mit Rieddächern. Sie wechseln sich mit unzähligen Schuppen und Unterständen, Trockengestellen für Fischernetzen und Lagerhallen ab und bilden eine unordentliche Sammelsiedlung. Boote verschiedenster Größe und Bauart sind zwischen den Häusern aufgebockt, einige im Bau begriffen, andere zu Reparaturarbeiten. Viele davon befinden sich in so schlechtem Zustand, dass sie wohl das Wasser nie wieder sehen werden. Kej genießt fasziniert all die neuen Eindrücke. Onish dagegen ist froh, dass nicht viele Menschen draußen unterwegs sind. Er vermutet, dass sie vor den Insekten, die in der Dämmerung besonders aggressiv sind, in ihre Häuser flüchteten. Er fragt sich, wo sie die Nacht verbringen können. Er wäre lieber erst am Morgen ins Dorf gekommen. Aber eine Nacht im offenen Sumpfland wollte er weder sich noch Kej zumuten. Deshalb hofft er, mit Glück im Ort selbst eine Unterkunft zu finden. Sie folgen der Hauptstraße, bis sie den eigentlichen Hafen am Haon erreichen. Die Flussufer sind mit Bohlen und großen Steinblöcken befestigt. An hunderten von Pfählen sind Dutzende von Booten und Schiffen verschiedenster Art vertäut. Am häufigsten sind kleine Ruderboote, die für den Transport weniger Personen gedacht sind. Daneben liegen größere, farbig bemalte Fischerboote, die Netze zu großen Haufen aufgeschichtet, bereit für die morgendliche Ausfahrt. Außerdem gibt es elegante, schlanke Reiseschiffe mit zahlreichen Ruderbänken und hübschen Kabinen für ihre wohlhabenden Besitzer. Am größten sind die Frachtschiffe mit ihren stämmigen Masten, das große Segel an der langen Rah aufgerollt. Für einmal ist Onish genauso fasziniert wie Kej. Dánan erzählte ihm von diesem Flusshafen. Sie bereiste selbst mehrmals mit großen Handelsschiffen den Haon. Allerdings konnte Onish sich bisher weder die Größe des Flusses noch die beschiedenen Bootstypen vorstellen. Er ist vom Treiben des Hafens so abgelenkt, dass ihn die versammelten Menschen nicht belasten. Zusammen mit Kej schlendert er dem Pier entlang und beobachtet das abendliche Treiben. Schließlich erreichen sie eine Stelle, wo mehrere große Frachtschiffe liegen. Hier herrscht überraschend viel Betrieb. Männer rollen große Fässer aus einem Schuppen hinunter zum Ufer. Von dort werden sie von anderen Arbeitern über eine schmale Holzplanke auf eines der Schiffe verladen. Onish und Kej lehnen sich gegen einen Zaum und schauen zu. Plötzlich ruft ein Mann sie an.
«He, ihr beiden, habt ihr etwas vor oder helft ihr uns beim Laden? Kräftige Jungen wie euch könnten wir brauchen!»
Kej grinst begeistert, als sie sich den Hut tiefer ins Gesicht drückt und Onish einen auffordernden Blick zuwirft. Dieser zuckt die Schultern: Warum nicht, vielleicht ist das der erhoffte Glücksfall. Er wendet sich an den Mann, der die Verladearbeiten beaufsichtigt.
«Gut, was sollen wir machen?»
«In dem Schuppen stehen neben den Fässern große Tongefäße, die an Bord müssen. Aber nicht fallen lassen, das ist teurer Honig aus Gerin. Schafft ihr das? Ich bezahle euch dafür, Hauptsache wir kommen heute mit der Abendbrise noch weg.»
Ohne ein weiteres Wort beginnen Onish und Kej, Honigtöpfe an Bord zu tragen. Als Kej mit dem ersten der Gefäße die schwankende Planke betritt, lässt sie es beinahe fallen. Von Bord des Schiffes begleitet ein helles Lachen ihren verzweifelten Versuch, das Gleichgewicht zu finden. Onish beobachtet Kej besorgt, traut sich aber nicht, ihr auf der wackligen Planke zu Hilfe zu kommen. Schließlich bringt sie sich mit drei raschen Schritten an Bord in Sicherheit und drückt den Honigtopf mit einem zornigen Blick der Lacherin in die Hände. Diese schaut Kej verdutzt nach, die mit einige Sprüngen bereits wieder an Land ist. Onish kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, während er vorsichtig über die Planke das Schiff betritt.
«Wo soll ich ihn hinstellen?»
Das Mädchen, das immer noch Kejs Topf festhält, mag etwa in ihrem Alter sein. Es trägt das braune Haar zu zwei Zöpfen geflochten. Einige Sommersprossen verzieren seine Stupsnase und wenn es lacht zeigt es eine Reihe weißer Zähne. Es blinzelt Onish freundlich zu.
«Komm, ich zeige dir, wo die Töpfe hinkommen.»
Es führt den jungen Schattenwandler über eine steile hölzerne Treppe in den Bauch des Schiffes hinunter. Die Fässer werden durch eine Luke heruntergelassen und entlang der Bordwände festgezurrt. In der Mitte des Schiffes werden die zerbrechlichen Gefäße in einem hölzernen Verschlag in Stroh verpackt. Ein junger Mann, einige Jahre älter als Onish, nimmt diesem den Topf ab, um ihn fachgerecht zu verstauen. Die sommersprossige Nase lässt vermuten, dass das Mädchen seine Schwester ist. Er nickt Onish zu.
«Danke. Bringt die großen Töpfe zuerst, die kleineren packe ich zuletzt dazwischen.»
«Klar, machen wir.»
Onish macht sich wieder auf den Weg. Kej betritt gerade mit dem nächsten Topf das Deck und er erklärt ihr, wo sie ihn hinbringen soll, als das Mädchen zurück an Deck kommt.
«Ist in Ordnung. Bringt mir die Töpfe, ich trage sie dann zu Akím hinunter.»
Auf diese Art geht das Verladen schnell. Als alle Fässer verstaut sind, bringen Onish und Kej die letzten beiden Töpfe an Bord. Der Schiffer nickt zufrieden, als er die Männer bezahlt und wendet sich dann Onish und Kej zu.
«Nun zu euch zwei Burschen.»
Das Lachen des braunhaarigen Mädchens unterbricht ihn.
«Was ist so lustig, Rihàn?»
«Dada, siehst du nicht, dass das ein Mädchen ist?»
Der Schiffer, ihr Vater, blickt Kej überrascht an und runzelt die Stirn.
«Weshalb hast du nichts gesagt? Ich hielt dich für einen Jungen.»
«Macht das einen Unterschied? Die Töpfe sind verladen, oder?»
Onish weiß, das Kej sich Mühe gibt, nicht zu heftig zu reagieren. Er legt ihr beruhigend eine Hand auf den Arm.
«Das ist Kej aus Nirah und ich bin Onish aus Atara. Wir sind unterwegs nach Lelai und suchen ein Schiff, das uns mitnimmt. Wir können unterwegs arbeiten. Ihr fahrt nicht zufällig in diese Richtung?»
Der Schiffer mustert Onish nachdenklich.
«Es gibt nicht viel ein- und auszuladen bis Lelai. Verstehst du etwas von Schiffen?»
«Nein, aber wir können lernen.»
Onish fürchtet schon, dass der Schiffer ablehnen wird, als Kej ihre eigene Fähigkeit einwirft.
«Ich kann kochen.»
«In diesem Aufzug?»
«Was haben meine Kleider damit zu tun, ob ich kochen kann?»
Akím lacht laut.
«Komm schon, Vater, nimm die beiden mit. Wir haben genug Platz und falls wir bezahlende Passagiere finden, werden sie unterwegs aussteigen müssen. Was Kej kocht, kann nicht schlechter sein, als was Rihàn zustande bringt.»
Diese letze Bemerkung erntet ihm einen harten Knuff zwischen die Rippen von seiner Schwester. Aber der Schiffer lacht und nickt Onish zu.
«Also gut, ihr könnt mitkommen, solange wir Platz haben. Aber genug Zeit verschwendet, wir wollen los, solange der Wind günstig steht. Akím, mach mit Onish das Segel bereit. Rihàn, du kümmerst dich mit Kej um die Leinen.»
Während Onish und Kej hastig ihre Habseligkeiten an Bord holen, laufen bereits die Vorbereitungen zum Ablegen.

Onish | Wattys 2015 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt